Nachtrag
Die Richterlisten und die Graphia Aireae
Urbis Romae
Vor der endgültigen Drucklegung diese Buches geht mir noch die Schrift Fedor Schneiders, Rom und Romgedanke im Mittelalter (München 1926) zu, die ich bei der Bearbeitung des Textes nicht mehr berücksichtigen konnte. Ich werde mich also auf dasjenige beschränken, was Schneider über die Graphia Aureae Urbis Romae mitteilt; er verwertet hauptsächlich Angaben von Percy Ernst Schramm, dessen Arbeiten über die Periode Ottos III. oben mehrfach zitiert wurden. In seiner Abhandlung Kaiser, Basileus und Papst in der Zeit der Ottonen (Hist. Zeitschr. 129, 1924) verspricht Schramm eine Untersuchung über die Graphia und die Richterlisten, die aber, soviel ich hier feststellen konnte, noch nicht erschienen ist. Schneider wurde aber eine Einsicht in das Manuskript gestattet, sodass ich dem zehnten Kapitel seines Buches einige Ergebnisse Schramms entnehmen kann.
Die Richterlisten. (Schneider l.c., S. 172). ‘Grammatikerarbeit ist endlich die sogenannte “ältere Richterliste”, d.h. die Zusammenstellung der sieben römischen Pfalzrichter und einiger anderer Würdenträger und die eigenartige, von der Hypothese ihres Zusammenhanges mit einer kaiserlichen Residenz ausgehende Angabe ihres Wirkungskreises. Die entsprechenden griechischen Namen werden hinzugefügt, Byzanz als das Ideal des Kaisergedankens schwebt überall vor. Diese Liste ist etwa aus der Zeit Ottos III. überliefert und wird kaum älter sein als das zehnte Jahrhundert. Benedikt gibt sie in den Mirabilien nach einer verlorenen, teilweise besseren Vorlage, und die Graphia fügt sie wiederum in einem selbständigen Text in ihre Beamtenlisten ein. Eine stark umgearbeitete Form dieser älteren Richterliste ist die jügere Richterliste des Bonitho von Sutri; sie ging in die Lateranbeschreibung des Johannes Diaconus und in die zweite Bearbeitung des Pan-
theon von Gottfried von Viterbo über. Diese veränderte Fassung stammt nicht aus Rom: “Seriniare sind die. die wir Tabellionen nennen”. Jene Bezeichnung ist römisch, diese wird vorzugsweise in Ravenna und der Romama gebraucht; man darf also die Richterliste des Bonitho wohl als Werk der römischen Rechtsschule auftassen, die sich gerade miter Wibert besonders mit römischen Dingen befasste.’
Im Gegensatz zu meiner Untersuchung bezeichnet Schneider die Liste des Bonitho als die jüngere Fassung; eine genaue Beurteilung dieser Meinung vermag icg in diesem Zusammenhang nicht zu geben. Wesentlich für meinen Gegenstand ist, dass auch an dieser Stelle die Liste aus der Graphia in die Zeit Ottos III. gesetzt wird.
Die Graphia Aureae Urbis Romae (Schneider l.c., S. 172 ff.). ‘Die Graphia, wie sie uns in einer Handschrift aus dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts in der Laurentiana vorliegt, zerfällt in drei Teile: jene kurze Notiz über die Gründung Roms, die Mirabilien mit kleinen Zusätzen bis 1154 und ein langes Schlusskapitel über den Kaiserhof, das Schramm als “Libellus de caeremoniis Romani imperatoris” bezeichnet. Diese Kompilation ist also erst nach 1154 entstanden; wir haben es hier mit dem Kern zu tun, dem Werke eines Anonymus etwa um 1045. Die Stimmung ist die des Romgedankens in der Richtung der Kaiseridee, nicht des Papstideals.
Der Kern ist nämlich der Libellus, dessen Tendenz und Inhalt die Sammlung der kaiserlichen Rechte und Abzeichen ist. Nicht ein Bericht über die tätsachlichen Verhältnisse liegt vor, sondern eine diese verschiebende Konstruktion, die in die politischen Ideale und Ziele gewisser stadtrömischer Kreise - der Vertreter der Kaiseridee - einführt wie keine zweite Quelle ... Die Disposition schliesst an die Schenkung Konstantins an; die aus dieser bekannten, dem Papst zugesprochenen Rechte und Embleme werden gewissermassen wieder für den Kaiser in Anspruch genommen ... Hauptquelle der Zutaten in einem bisher noch nicht erkannten Umfang ist Isidor; dazu kommen Servius, Vegetius, die Chronik des Hieronymus und indirekt Livius, vielleicht in der Gestalt der römischen Geschichte des Paulus Diaconus. Ferner Erinne-
rungen aus Byzanz, auch wohl Aufzeichnungen von dort. So ist die Quelle des Kapitels über die Eunuchen unbekannt. Die drei Schlussformeln über die Ernennung zum Patricius, Richter und römischen Bürger gehören ebenfalls dem Anonymus an; die Sonderüberlieferung in einer Handschrift der Langobardengeschichte des Paulus Diaconus aus dem elften Jahrhundert, die wohl in Rom geschrieben ist, ist nicht Quelle, sondern Ableitung. Für die Verfassungsgeschichte sind diese Formeln nicht verwertbar; nur Formalien sind echt, das Ganze Konstruktion.
Der Anonymus ist Parteigänger der Tusculaner und will ihre Herrschaft rechtfertigen; er ist kein Geistlicher, das Papsttum spielt bei ihm keine Rolle. Die Romidee ist hier mit der Kaiseridee identisch, die “renovatio imperii” das Ziel, wie sie den lombardischen Politikern Ottos III. vorgeschwebt hatte, doch rein ideal, ohne deren Machtpolitik, oder die der Ravennaten des Wibert. Glühendes Nationalgefühl, Verherrlichung Roms, dem das neuerstandene Kaisertum neuen Glanz bringen, Wetteifer mit Byzanz, das übertrumpft werden soll. Über das Mittelalter hinweg schweift die Sehnsucht zurück zur Antike; sie soll von störenden Zutaten befreit, in reiner Form wiederhergestellt werden. Gedanken, die damals in den lombardischen Politikern eine reale Macht gewonnen hatten. Auf Leo von Vercelli folgt Benzo von Alba. Spuren des Libellus reichen bis zu Bonifaz VIII. Doch die nationalrömische Färbung dieser italienischen Richtung der Kaiseridee, wie sie dann unter den Staufern zu der politisch treibenden Kraft wird, vertritt nur der Anonymus von 1045 in der Urgraphia’.
Allem Anschein nach hat Schramm die immer noch nicht endgültig abgeschlossene Graphiaforschung ein beträchtliches Stück weitergeführt. Im obigen Zusammenhang beabsichtigte ich nur, das Verhältnis des sog. ‘Libellus de caeremoniis Romani imperatoris’ zur Politik Ottos III. klarzustellen. Aus den von mir kursiv gedruckten Zeilen erhellt jedoch dass mein Ergebnis: ‘Die Graphia ist eine systemlose Kompilation, ohne Rücksicht auf die Realität als Zeremonialbuch aufgesetzt und aus den verschiedensten Quellen bearbeitet, die als solche über die Hofhaltung Ottos III. keinen Aufschluss
gibt’, sich als richtig erweist. Wenn auch die Untersuchungen Schramms meine Ausführungen zweifellos ergänzen und wahrscheinlich in Einzelheiten modifizieren werden (vielleicht wird sich meine Auffassung von der Byzanzpolitik Ottos III. verallgemeinern lassen), so stehen doch die Beziehungen der Zeremonialtexte, der drei Konstitutionsformeln und des Richterverzeichnisses der Graphia zur Byzanzpolitik und zur konstantinischen Schenkung wohl fest. Dass im allgemeinen die Graphia für die Geschichte Ottos III. gänzlich unbrauchbar ist, braucht nicht länger bezweifelt zu werden.
Ich will aber der Veröffentlichung der Forschungen Schramms, die hoffentlich bald erfolgen wird, nicht vorgreifen und verzeichne nur vollständigkeitshalber die bei Schneider angeführten Resultate.