Emigranten-Literatur

Der Verfasser - der den Aufsatz übrigens selbst in deutscher Sprache schrieb - ist einer der geschätztesten holländischen Essayisten und Roman-Autoren, literarischer Kritiker von ‘Het Vaderland’ und Redakteur der Zeitschrift ‘Forum’.

Als sich 1933 in Deutschland die sogenannte ‘Nationale Revolution’ vollzog, sahen nicht nur die deutschen Schriftsteller sich genötigt, Partei zu ergreifen; die deutsche Literatur war ja eine europäische, nicht nur eine deutsche Angelegenheit. Im heutigen Europa kann man überhaupt nicht mehr von nationalen Literaturen sprechen, es sei denn, man beschäftigte sich speziell mit Folklore. Es gibt höchstens noch nationale Akzente, die in gewissen Fällen von grosser Bedeutung sein können, niemals aber über den Wert des eigentlich Literarischen entscheiden. Wie töricht es auch sein mag, das nationale Moment vollkommen auszuschalten und die europäische Literatur als eine Art ‘Esperantokollektiv’ zu betrachten: tausendmal törichter ist es jedenralls, das Nationale als Selbstzweck figurieren zu lassen. Ich behaupte das in aller Ruhe, und keineswegs als ‘Utopist’. Das ‘gute Europäertum’ hat mit Utopismus nichts zu tun; wir fühlen europäisch, weil wir Europäer geworden sind.

Wir hatten also gar keine Wahl. Als die deutsche offizielle Literatur sich infolge der ‘nationalen Revolution’ planmässig auf die nationalen Werte zurückzog und die europäischen Strömungen ebenso planmässig boykottiert wurden, war die Sache der Emigrationsliteratur auch unsere Sache geworden. Nicht kritiklos den Emigranten gegenüber, sondern überzeugt von der Bedeutung unserer gemeinsamen Mission habe ich damals die ersten Erscheinungen der Emigrantenverlage begrüsst. Wenn ich auch, um ein Beispiel zu nennen, von der allzu einfachen Vernunftsideologie eines Heinrich Mann in seinem ‘Hass’ nicht schlechthin begeistert war, konnte ich doch nicht umhin, die Stellungnahme dieses Autors zu bewundern und zu verteidigen. Man soll sich darüber nicht täuschen lassen: die Verwandtschaft zwischen den Schriftstellern der deutschen Emigration und ihren europäischen Kollegen entstand ziemlich unabhängig von reinen literarischen Masstäben. Wir haben darum jetzt nicht erst abgewartet, bis die Emigranten zu produzieren anfingen. Wir durften schon vorher ganz offen sagen und schreiben, die Emigration sei uns wichtiger als das literarische Geschäft des Herrn Dr. Goebbels.

Aus alledem geht aber auch hervor, dass wir uns die Freiheit vorbehalten haben, unser Verhältnis zu jedem einzelnen Emigrantenbuch in seiner Eigenschaft als literarisches Phänomen ohne irgendwelche Voreingenommenheit zu begründen. Es wäre sogar möglich gewesen (man darf dies scheinbare Paradoxon nicht übersehen), dass wir literarisch die gesamte Emigrationsliteratur hätten ablehnen müssen. Das Literarische ist ja nur eine Erscheinungsform, und diese Erscheinung des Wesens kann manchmal (könnte sogar immer) eine Verzerrung des Wesens sein. Wer in der Literatur das Wesentliche sucht, kann sich sehr leicht irren; denn die literarische Betätigung setzt im allgemeinen eine grosse Fähigkeit zum Verstellen, zum Arrangieren, zum Schauspielern, kurz: zum Unwesentlichen voraus. Nur der ganz naive Mensch kann noch glauben, dass Literatur und Ehrlichkeit Synonyme seien; in den meisten Fällen hat sich zwischen den Menschen und das Werk schon die Theaterkunst geschoben. Man soll die Schauspielerei des Literaten nicht absichtlicher Verlogenheit gleichsetzen. Im Gegenteil: durch die andauernde literarische Tätigkeit entsteht wieder eine neue Art Ehrlichkeit. Aber die ist sogar noch gefährlicher als die grundsätzliche Verlogenheit des zielbewussten Komödianten. Gerade weil im Literaten gar kein Zweifel mehr aufkommt, ob die Literatur denn wirklich den Wert einer unmittelbaren Enthüllung einer menschlichen Seele habe, verliert er das Misstrauen gegen die Literatur; die ‘adoration mutuelle’ der Künstler ist manchmal nicht weniger naiv als die ursprüngliche Naivität des ungebildeten Menschen. Das Wort Nietzsches: ‘Schreibt man nicht gerade Bücher um zu verbergen, was man bei sich birgt?’, hat vielen Künstlern gar nichts zu sagen, - denn das Wort wendet sich gegen den literarischen Betrieb, womit sich der zufriedene Literat schon längst abgefunden hat. Seine literarischen Urteile beziehen sich überhaupt nicht mehr auf die literarischen Werte als Lebens-Werte; es handelt sich in der zunftmässigen Kritik nur noch um Fach-Werte.

Die deutsche Literatur vor der ‘nationalen Revolution’ war in manchen Hinsichten eine Literatenliteratur. Man soll das offen sagen. Nur so kann man zu einem besseren Verständnis der heutigen Emigrationsliteratur gelangen. Dass die Emigran-ten besser schreiben als die Dunkelmänner der Reichskulturkammer (die neuen Literaten!) beweist also nicht die Superiorität der Emigranten; es beweist nur ihre grössere Anpassungsfähigkeit. Dass Wirrköpfe heute im Dritten Reich sich breit machen und wissenschaftliche Verworrenheit mit Provinzlermärchen verbinden, beweist noch nicht, dass die Emigration an den Brüsten der Wahrheit saugt. Die wirkliche Emigrationsliteratur ist, trotz der beträchtlichen literarischen Ernte dieser Emigrationsjahre, noch ungeheuer klein. Und zwar deshalb, weil die Majorität der bei den holländischen, französischen, tschechischen und schweizerischen Verlegern erschienenen Bücher sich gar nicht wesentlich von der vorhitlerischen Produktion unterscheidet. Manchmal hat man den Eindruck, dass der ‘Betrieb’ einfach fortgesetzt wird; was früher Kiepenheuer und Fischer war, sind heute Querido und de Lange. In der Wahl der Motive macht sich freilich die neue Situation bemerkbar; aber Motive entscheiden nicht über den Wert einer Literatur. Ich habe in den Emigrantenbüchern tatsächlich auch ehrliche Empörung gefunden (Ernst Toller: ‘Eine Jugend in Deutschland’), und ehrliche Empörung ist mir schon lieber als glatte Literatur. Aber auch Empörung kann ich nur als Vorstufe betrachten, weil selbst der Empörte, und gerade er, noch der schärfsten Selbstkritik bedarf, um ein Buch de premier ordre schreiben zu können.

 

Diese Kritik an sich selbst fehlt leider auch dort, wo sie am wenigsten fehlen dürfte: in den Referaten der Emigrations-Zeitschriften. Ist es ‘Taktik’, die hier immer wieder das Wort ergreift? Dann scheint mir diese Taktik ungeschickt. Es gibt doch wohl nur die eine Taktik: gegenüber der miserablen Literatur des Dritten Reiches vor den Augen der Welt durch überzeugend bessere Leistung das Bild eines anderen, eines geistigen Deutschland entstehen zu lassen! Es war ein Emigrant, der mir, im Hinblick auf das Versagen der literarischen Kritik in den Emigrantenzeitschriften, schrieb: ‘Mit der Nachahmung der Methoden des Propagandaministeriums kann man nur ähnliche Effekte der Ablehnung und des Misstrauens erzeugen wie Herr Goebbels selbst.’ Es scheint mir aber sehr zweifelhaft, ob hier wirklich bewusste Taktik herrscht; lieber greife ich zurück auf meine Bemerkungen über die relative Naivität der Künstler im allgemeinen. Die Künstler stehen als Künstler schon ihren eigenen Theatereffekten ziemlich kritiklos gegenüber, weil sie die Gebärde, die Maske, die Attitüde als das Wesentliche nehmen; man darf sich also nicht zu sehr darüber wundern, dass sich bei ihnen, die durch eine widerliche Hetze aus ihrem Lande hinausgejagt wurden, die Kritiklosigkeit zu einem ‘Komplex’ entwickelt. Die Notwendigkeit, sich gegen schmutzige Verleumdung zu verteidigen, gegen Dummheit, die sich als Mystizismus aufputzen möchte, schmiedet Schutzwaffen; und die Schutzwaffe macht kritiklos auch den Kameraden gegenüber, die sich mit ähnlichen Waffen schützen.

 

Auf die Dauer aber wäre dieses Verhalten der Emigranten-Kritik den eigenen Fehlern gegenüber fatal für ihr Prestige in Europa. Die Ueberschätzer des rein-literarischen auf Kosten der Lebenswerte mögen ja zeitweilig die Suggestion von der Vorzüglichkeit der gesamten Emigrantenliteratur aufrechthalten können. Schliesslich einmal wird sich aber herausstellen müssen, dass dies Niveau nur ein artifizielles ist und nur durch Kunstgriffe glaubhaft gemacht wurde. Ohne Schwierigkeit könnte ich an dieser Stelle eine Anzahl konkreter Beispiele nennen. Vielleicht aber empfiehlt es sich, in diesen allgemeinen Bemerkungen allgemein zu bleiben und den Emigrationsautoren selbst zu überlassen, aus der Theorie ihre praktischen Konsequenzen zu ziehen. Gut geschriebene, mit gutem Geschmack komponierte Bücher, die auch von einem anderen talentierten Schriftsteller geschrieben sein könnten und dem Leser nicht mehr geben als andre ‘gute’ Bücher, sind relativ (und ich sage das, ohne die Verdienste der ‘Technik’ schmälern zu wollen) ‘bedeutungslos’. Auf etwas Anderes kommt es an, und von diesem Anderen wird in den überschwenglichen Kritiken der Emigrantenpresse leider nur ausnahmsweise gesprochen.

 

Der Herausgeber des ‘N.T.B.’ räumt meinem Aufsatz die Spalten dieser Zeitschrift ein und beweist damit, dass er sich der Verantwortlichkeit einer wirklichen Diskussionsfreiheit bewusst ist. Ich hätte diese Gedanken übrigens nicht formuliert, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass man meine kritischen Aeusserungen richtig auffassen wird. Die Emigrationsliteratur soll mehr sein als eine Fortsetzung. Sie soll den Mut haben, ihre europäische Aufgabe zu verstenen und ihre Stellungnahme zur Literatur nicht nur beeinflussen zu lassen von der Notwendigkeit, gegen den falschen Mystizismus der Blubo-Götzendiener zu kämpfen. Ihre Kritik soll nicht die Geschicklichkeit des Literaten, sondern die Genialität der grossen Persönlichkeit als Masstab wählen. Sonst könnte jemand einmal über die Don Quichotes der Literatur inen humoristischen Roman schreiben, der Franks ‘Cervantes’, in dem Don Quichote nur eine Nebenfigur ist, in den Schatten stellen würde...