[p. 245]

Ernst Kallai
Der Plastiker Gabo

‘Wij ontkennen de massa als ruimtelijke uitdrukkingsvorm....De diepte is de eenige uitdrukkingsvorm van de ruimte.’
‘Wij schakelen in de plastiek de (physische) massa als plastisch element uit’.
‘Wij bevrijden ons van de duizendjarige dwaling der kunst, dat slechts statische rythmen haar elementen zouden kunnen zijn. Wij verkondigen. dat de belangrijkste elementen der kunst de kinetische rythmen zijn.’
Uit het realistische manifest, Moskou 1920.
?
‘Nous nions la masse comme forme d'expression de l'espace....La profondeur est l'unique forme d'expression de l'espace.’
‘Nous éliminons dans la plastique la masse (physique) comme élément plastique. Nous nous libérons de l'égarement séculaire de l'art selon lequel seuls les ryhtmes statiques pourraient être ses éléments. Nous proclamons que les principaux éléments de l'art sont les rythmes cinétiques.
Extrait du manifeste réaliste. Moscou 1920.
?
We denie the existence of the mass as an extensive form of expression. The depth is the only form of expression of the space. We exclude in plasticity the (physical) mass as a plastic element. We are freeing ourselves from a thousand years existing error of art, that only statistic rhythms could be its elements. We proclaim that the most important elements of art are the kinetic rhythms.
Drawn from the realistic manifesto, Moskou 1920.

Das Wesentlichste, das über die Arbeiten von Gabo zunächst gesagt werden muss, ist im ‘Realistischen Manifest’ nachzulesen, aus dem ich einige Sätze folgen lasse. Diese zum Teil polemische Kundgebung aus dem Jahre 1920 geht auf die entscheidende Initiative und Mitarbeit von Gabo zurück. Ihre künstlerischen Grundsätze sind für den Plastiker auch heute noch bezeichnend.

Das Manifest nennt sich realistisch, denn

 

‘die Grundsteine der Kunst müssen auf dem harten Boden der Gesetze des realen Lebens ruhen.’

‘Nun sind Raum und Zeit die beiden ausschliesslichen Formen der Lebenserfüllung. Also hat auch die Kunst sich nach diesen beiden Grundformen zu richten, wenn sie das wahre Leben erfassen will.

‘Unser Welterleben in den Formen von Raum und Zeit zu verwirklichen: das ist das “einzige Ziel unserer schöpferischen Kunst.’

‘Wir halten das Senkblei in der Hand, unsere Augen sehen gradlinig wie ein Lineal, unser Geist spannt sich gleich einem Zirkel und wir gestalten unsere Werke wie die Welt ihre Geschöpfe, wie der Ingenieur eine Brücke, wie der Mathematiker die Formeln einer Planetenbahn.’

‘Wir wissen, dass jeder Gegenstand seine besondere Eigenheit besitzt. Tisch, Stuhl, Lampe, Buch, Telephon, Haus ein jedes bildet eine Welt für sich, eine Welt von eigener Rhythmik und Planetenbahn....’

‘Wir verneinen das Volumen als räumliche Ausdrucksform. Der Raum kann eben so wenig mit einem Volumen gemessen werden, wie eine Flüssigkeit mit dem Metermass. Was könnte der Raum denn noch sein, ausser einer undurchdringbaren Tiefe? Die Tiefe ist die einzige Ausdrucksform des Raumes.’

‘Wir schalten in der Plastik die (physische) Masse als plastisches Element aus. Jeder Ingenieur weiss, dass Statik und Widerstandskraft eines Gegenstandes nicht von der Masse abhängen. Ein Beispiel genügt: die Eisenbahngleise. Trotzdem leben die Plastiker in dem Vorurteil, das Masse und Umfang unzertrennlich seien.’

‘Wir befreien uns von dem tausendjährigen, aus Aegypten stammenden Irrtum der Kunst, dass nur statische Rhythmen ihre Elemente sein könnten. Wir verkünden, dass als Grundform unseres Zeitempfindens, die wichtigsten Elemente der Kunst DIE KINETISCHEN RHYTHMEN sind.’

 

Eine Bewegung, die sich im wirklichen Raume abspielt, soll die plastische Form gestaltend

[p. 246]

erzeugen. Aber dieses plastische Gebilde ist keineswegs identisch gedacht mit jener stofflichen Form, deren kreisende oder schwingende Bewegung das Gebilde erstehen lässt. Dies würde einen technischen Naturalismus, einen naiven ästhetischen Maschinenkult bedeuten. Gabo ist im Gegenteil bestrebt, den optischen Bewegungs- und Gestaltungseindruck von allen gegenständlichen Spuren des maschinellen Antriebes frei zu halten.

Man betrachte die abgebildete kinetische Plastik Gabos. Sie sieht wie eine Spindel aus, besteht aber aus einem ganz dünnen und schmalen Metallstreifen mit einem Plättchen am Ende, der durch elektrische Einwirkung von Bewegungswellen erfasst und zum vibrieren gebracht wird. Das Auge kann die einzelnen Phasen dieser lebhaften Vibration der Metallzunge nicht auseinanderhalten. Die Vibrationen verschmelzen zu einem luftigen, metallisch schimmernden Scheingebilde, dessen Form sich elastisch auszudehnen oder zusammenzuziehen scheint, je nachdem, mit welcher Schwingungszahl die Bewegungswellen der Metallzunge dahinjagen. Der Eindruck ist volkommen analog der Illusion, die man beim Anblick eines kreisenden Propellers oder jenes Metallreifens hat, der bei den Zentrifugalversuchen der Physik gebraucht wird. Gabos künstlerische Erfindung besteht in dem Gedanken, solche Illusionen von räumlicher Gestalt als Formenelemente einer rhythmisierten plastischen Gestaltung verwenden zu wollen, Plastik nicht als Masse, sondern als Raumgestaltung zu nehmen. Rhythmisch bewegte stoffliche Teile sollen die Illusion einer sich rhythmisch wandelnden

illustratie
N. GABO
MODELL ZU EINER SÄULE


räumlichen Gestalt erregen.118 Dieser rhythmische Bewegungswandel würde sowohl unser Zeitempfinden, als unser räumliches Schauen ergreifen. Die kinetische Plastik wird als einheitliche Gestaltung von Zeit und Raum erstrebt.

Die modernen Empfindungsquellen dieser kühnen und vollkommen neuartigen künstlerischen Idee liegen klar zutage. Sie ist eine letzte Folgerung der technisch begeisterten grosstädtischen Intellektualität unserer Zeit. Diese Intellektualität hat jede Beziehung zur sinnlichen Daseinspracht der Natur verloren, deren künstlerisch auszuwertende Schönheit ge-

[p. 247]



illustratie
N. GABO
KONSTRUKTION


rade in der Tiefe und Beharrungskraft liegt, mit denen ihre Formen sich dem Stoffe verbinden. Gabo sieht über diese Stofflichkeit hinweg: seine rein geistige Erlebnistendenz vermag sich nur an Formen emporzuschwingen, in denen undurchschaubare Dichte und triebdunkle Schwere der Materie bis zur Grenze des Nichts verdünnt, durchleuchtet erscheinen. Diese äusserste Entstofflichung beschränkt den Eindruck des Materiellen auf das unumgänglichste Mindestmass, das nötig ist, um eine Form überhaupt noch umschreiben, illusionistisch markieren zu können. Man stelle sich das Volumen einer Kugel vor, dem jeder stoffliche Gehalt entzogen ist. Dieses Volumen und mit ihm die Form der Kugel

[p. 248]

müssten in der Konzeption Gabos durch eine gleichsam graphische, illusionistische Markierung der Kugeloberfläche gegeben werden. Was eine solche Kugel an stofflicher Dichte und Vitalität entbehrte, wäre auf der anderen Seite durch die geschmeidig-rhythmische Vitalität der Bewegungen aufgewogen, die den Augenschein der sphärischen Oberfläche und damit die Illusion einer Kugel erzeugen würden. Innen und Aussen dieser Kugel wären eben so wenig von einander zu trennen, wie Struktur und Oberfläche eines Wassertropfens. Ihre stofflich fast vollkommen wesenlose, schemenhaft lichtdurchlässige Form würde einzig und allein als flirrender Schimmer eines rasenden Bewegungswirbels bestehen.

Gabo erschaut das ästhetische Ideal der kinetischen Leidenschaft unserer Zeit, für die Leben nur Bewegung und immer wieder Bewegung bedeutet. Er erschaut die Bewegung, von allen praktisch-zweckmässigen, nützlichen Endlichkeitsbindungen losgelöst, zur Vision ewig in sich zurückkehrender, aus sich neu emporschnellender räumlich-zeitlicher Rhythmen gesteigert. Kühne Diagonalen, um die sich ein Wirbel von heftigsten Spiralen schlägt: das sind die ständigen Gestaltungselemente in allen Phantasie-Entwürfen, zu denen Gabo durch den Gedanken der kinetischen Plastik angeregt wird. Diese Entwürfe haben einen eminent tänzerischen Schwung, der in typisch russischen Rhythmen zur Entladung kommt. Aber solche Geschwindigkeitsparoxismen der sich drehenden und schleudernden Bewegungsfreude gehen über jede menschliche Möglichkeit hinaus. Diese rasende Kinetik ist nur technisch, und zwar elektrotechnisch zu verwirklichen. Auch ihre vorgesehene reiche und geschmeidige Wandlungsfähigkeit erfordert diese Technik. Nur elektrische Ströme, elektrische Fernwirkungen eignen sich zu solchen modulierbaren Energie-Impulsen, auf die es bei den kinetischen Plastiken Gabos ankommt. Gabo gründet das Wesen seiner neuen Plastik auf elektrotechnische Voraussetzungen, deren praktische Verwirklichung einstweilen noch gar nicht abzusehen ist. Das einzige elektrisch betriebene Modell einer kinetischen Plastik, das Gabo selbst konstruiert hat, beschränkt sich, wie bereits erwähnt, auf das Hervorbringen einer äusserts einfachen, spindelartigen illusionistischen Raumgestalt. Kompliziertere Entwürfe müssen sich entweder mit graphischen Andeutungen oder mit Stehmodellen in Metall und Glas zufrieden geben, die freilich nur als Surrogate in Betracht kommen, so eindringlich-spannungsvoll sie in ihrer statischen Gebundenheit auch wirken mögen. Gabos Plastik ist, so weit freie Gestaltungen kinetischer Absicht vorliegen, der Zukunft. Kunst. Ihre kühnen Perspektiven müssen auf umwälzende technische Erfindungen warten, um erfüllt werden zu können.

Immerhin geben auch die statischen Modelle einen vielfältigen und fesselnden Eindruck von der Art, wie Gabo durch ein fast nur linear wirkendes weitmaschiges Gerüst aus Metall und Glas eine Raumgestaltung gespanntester Baugesetzlichkeit und geschlossenster Rundung hervorbringt. Fast alle Plastiken Gabos sind Rundplastiken, deren Reichtum an innerer Gliederung erst dann restlos ins Auge tritt, wenn sie um ihre Achse gedreht und stetig fortschreitend von allen Seiten betrachtet werden. Erst dieses wechselvolle Schauspiel der vielen Ansichten lässt die kreisende, spiralmässig gewundene, von Punkt zu Punkt mit lebendigen Elan sich mitteilende rhythmische Kraft solcher Plastiken erkennen. Filmaufnahmen haben diesbezüglich ganz überraschende Schönheiten der Arbeiten von Gabo zutage gefördert. Das Spiel der gegensätzlich gelagerten transparenten Flächen, der scharf zugeschnittenen Kanten und vielfach geschwungenen Linien entfaltet sich mitunter graziös fächerartig oder erinnert an die Flügelstellung ruhender Schmetterlinge. Solche Eindrücke des schwebend Leichten, fast vollkommen Schwerkraftentrückten lassen die Schönheiten der Bewegung und des Gestaltenwandels erahnen, die Gabos kinetische Plastik, einmal zur erforderlichen technischen Lösung gelangt, offenbaren könnte. Sie lassen aber zugleich auch einen Zusammenhang empfinden, der das gleiche fluidumartig verflüchtigste, schillerndbewegliche Gestaltungsspiel verheisst, ohne auf die vorläufig noch problematische-technische Konstruktion einer kinetischen Plastik angewiesen zu sein. Je mehr die kinetische Plastik Gabos sich der Verwirklichung ihres Ideals nähert, eine aus Bewegungsrhytmen erstandene

[p. 249]



illustratie
N. GABO
KINETISCHE PLASTIK


illusionistische Raumgestaltung zu sein, um so mehr sind ihre Wirkungen auch durch den Film zu erreichen. Denn diese kinetische Plastik hat nicht einmal so viel stoffliche Konsistenz wie das Formenspiel einer Fontäne, die fliessendes Wasser sur kunstvollen Gestalt werden lässt. Sausende Reflexgespinste aber vermag auch der Film beliebig und voller räumlicher Illusion zu gestalten.

Jedoch, es gibt auch Plastiken von Gabo, deren statische Gestaltung nicht als Andeutung einer beabsichtigten Kinetik, sondern als Selbstzweck zu nehmen ist. Sie bewahren in Gegensatz zu den kinetisch-asymmetrisch empfundenen Diagonalen ein horizontal-vertikales und symmetrisches Gleichgewicht. Diese geistvoll facettierten und in ihren Materialzusammenklängen fein kombinierten Metall- und Glaskonstruktionen würden sich ausgezeichnet als grosstädtische Lichtsäulen verwenden lassen, Ueberhaupt ist die kunstlerische Durchgestaltung moderner Beleuchtungseffekte eine Aufgabe, der Gabo die glänzendsten Lösungen abzugewinnen weiss. Gerade seine besondere Begabung für ein fast stoffloses Andeuten statischer und kinetischer Raumfunktionen befähigt ihn, Lichtflächen und lineare Lichtbahnen als räumlich wirkungsvolles Gefüge zu gestalten.

Der Idealist und wohl auch Romantiker in Gabo wehrt sich gegen solche Anwendungen seiner Kunst. Und doch wäre gerade hier eine Möglichkeit vorhanden, Plastik in geistigorganische und konstruktiv-notwendige Verbindung mit moderner Architektur zu bringen. Diese zweckgebundene Anwendung rhythmisierter Formen brauchte nichts mit dem kunstfeindlichen Utilitarismus gemein zu haben, gegen den Gabo während der Moskauer Revolutionsjahre so heftig gekämpft hat. Der bewusste Wille zur modernen Zweckform kann vielmehr zur klaren und gesunden Scheidung zwischen angewandter und freier Gestaltung führen. Gerade er vermag vor gefährlichen Verquickungen dieser beiden Sphären der Form zu bewahren. Vor Gefahren, denen mitunter auch Gabo ausgesetzt ist, wenn er den spontanen Ansatz zu einer Zweckform, einer neuartigen Lichtreklame etwa, aus seiner ursprünglichen geraden Richtung in unangebrachte, rein ästhetische Wendungen umbiegt - lediglich, um einer falschen Scheu vor der Nützlichkeit zu gehorchen. Dann entstehen widerspruchsvolle Arbeiten, die weder Zweckmässigkeit, noch Freiheit erkennen lassen. Allerdings ist die Möglichkeit solcher widerspruchsvollen Verquickungen gerade bei Gabo sehr naheliegend. Denn seine hervorragend zeitgemässe Begabung äussert sich eben darin, dass er Zweckgebundenes und Freies aus dem selben feinen Empfinden für moderne technische Stoffe, Funktionen und geistig-spannungsvolle Rhythmik zu gestalten weiss.

[p. 250]



illustratie
N. GABO UND PEVSNER
‘BÜHNENBILD’ FÜR DAS RUSSISCHE BALLET VON DJAGHILLEFF
FOTO: HENRI MANUEL


118Lissitzky hat einige Jahre nach dem ersten kinetischen Modell Gabos, das 1920 in Moskau und 1922 in Berlin ausgestellt war, den Gedanken solcher illusionistischen Raumplastik in Westheims ‘Europa-Almanach’ 1924/25 dargelegt, ohne die Urheberschaft seines Kollegen, die ihm sehr wohl bekannt war, mit einem einzigen Worte zu erwähnen. Es gibt viel unnützen Streit um Prioritäten, aber hier hat man es mit einem Fall zu tun, wo Priorität und Nachahmung mit aller Entschiedenheit auseinandergehalten werden können und müssen.