E.J. Gumbel
Klassenkampf und Statistik
Eine programmatische Untersuchung
(Schluss)
Die Fälschung oder die falsche Aufstellung des Lebenshaltungsindex ist eines der Momente, wo der Klassenkampfcharakter der Statistik offen zutage tritt. Denn der Index bildet die Grundlage der Tarifverhandlungen zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften und von ihm gehen behördliche Entscheidungen - soweit sie notwendig und möglich sind - aus. Die Wichtigkeit einer richtigen Berechnung des Index ergibt sich vor allem aus seiner Monopolstellung. Andere als die offiziellen Indexziffern haben nämlich wegen der Schwierigkeit der umfassenden Beobachtungen, welche für jede Indexziffer notwendig sind, keinerlei Aussicht auf allgemeine Annahme. Die Indexziffer kann übrigens niemals eine Verbesserung, sondern höchstens eine Konservierung des früheren Standes der Arbeiterklasse, und auch dies nur bei richtiger Berechnung, mit sich bringen. Von den zahlreichen Fehlern, die einer Indexziffer zu grunde liegen können, seien nur folgende erwähnt: zu hoch angenommene Ausgangspreise bedeuten einen aktuell zu niedrigen Index. Ein zu niedriges Ausgangsniveau, etwa das Niveau eines relativen Hungerjahres, kann beim übergang zum Indexlohn eine Senkung der Löhne bedeuten. Daher die Notwendigkeit, nicht von einem bestimmten Jahr, sondern am besten von dem Durchschnitt einiger Jahre auszugehen. Falsche Wahl der Gewichte kann die Indexziffer beinah beliebig niedrig machen, da es genügt, einem verhältnismässig verbilligten Bedarf einen relativ zu hohen Anteil zu gewahren. Ausser falschen Preisen und falschen Gewichten kann auch die Aufnahme oder Nichtaufnahme eines Bedarfsgegenstandes z.B. Ausgaben für Reinlichkeit und Kultur ein Mittel werden, um das Niveau zu drücken, von den evidenten Fehlern, wie die Ungenauigkeit in der Wiedergabe der wirklichen Preise nicht zu sprechen.
Wesentlich ist auch, dass man bei steigenden Preisen nicht etwa ein Ausweichen der Teuerung in der Indexziffer annehmen d.h. die Verwendung anderer Produkte zugrundelegen darf; vielmehr muss bei einer Teuerung das alte Budget erhalten bleiben. Denn die Verwendung anderer, minderwertiger Produkte bedeutet ja bereits eine bewusste Senkung des Niveaus, widerspricht also dem Zweck der Indexziffer.
In Anschluss an die Indexziffern interessieren auch Haushaltrechnungen, welche zeigen sollen, wie die einzelnen Arbeiter tatsächlich leben. Die Schwierigkeit hierbei beruht darin, dass diejenigen Kreise, die am interessantesten sind, am wenigsten geneigt sind, solche Rechnungen durchzuführen. Entsprechend sind bisher mehr Haushaltungsrechnungen des Mittelstandes als der Arbeiter bekannt. Neben der Höhe des Einkommens interessiert seine Verteilung: mit steigendem Wohlstand wird ein fallender Prozentsatz für die Ernährung und für die Miete ausgegeben. Dies ist die andere Seite der bekannten Tatsache, dass die Arbeiterschaft gezwungen ist, ihr gesamtes Einkommen zu Befriedigund der zum Leben unumgänglich nötigen Bedürfnisse auszugeben und dadurch des Anteils an den Kulturgütern beraubt ist.
Das Problem der Indexziffern ist in Zeiten fallender Währung geradezu lebenswichtig. Denn hier ist streng zwischen Reallöhnen und Nominallöhnen zu unterscheiden. Nominallöhne sind die Löhne in der gesetzlichen Währung, Real-Löhne sind die durch die innere Kaufkraft ausgedrückten Löhne, d.h. die Nominallöhne dividiert durch den Lebenshaltungsindex. Die Entwicklung der Inflation war dadurch gekennzeichnet, dass die Nominallöhne stets stiegen, während die Reallöhne höchstens gleich blieben, in den meisten Fällen jedoch fielen.
Die Feststellung der Reallöhne hat nun statistische Schwierigkeiten. Denn während man bei stabiler Währung mit einem Gleichbleiben der Indexziffern für Monate oder mindestens für Wochen rechnen durfte, wäre in Zeiten schwankenden Geldwertes eine solche Berechnung unter Umständeu für Tage, ja in den Zeiten der höchsten Krise für Stunden notwendig. Das kann aber keine Statistik leisten. Denn die Teuerungszulagen können höchstens einmal in der Woche
festgestellt werden, während die Löhne unter Umständen zwei- bis dreimal in der Woche ausbezahlt werden. Aber die ausbezahlten Löhne sollen doch für die Lebenshaltung der nächsten Tage dienen. Infolgedessen muss die Division der Löhne eines Tages durch die Lebenshaltungskosten des nächtsliegenden vorangegangenen Stichtages zu falschen Resultaten führen, welche die Reallöhne als zu hoch erscheinen lassen. Um diesen für die Kapitalisten angenehmen Trugschluss zu beseitigen, braucht man also mindestens tägliche Teuerungszahlen. Dies ist ein Problem der Inter-bezw. Extrapolation. Man nimmt zu diesem Zwecke an, dass die Lebenshaltungskosten von einem Tage, für den sie bekannt sind, bis zum nächsten Stichtage täglich um einen konstanten relativen Betrag gewachsen sind, d.h. dass die Lebenshaltungskosten eine geometrische Reihe bilden. So kann man tägliche Zwischenwerte finden und in beschränktem Mass auf vielleicht eine Woche vorausberechnen. Die Resultate dieser Methode gehen für die Zeit des Endes der deutschen Inflation dahin, dass der Reallohn ausserordentlichen, ganz unmotivierten Schwankungen ausgesetzt war, und dass die Reallöhne viel tiefer standen, als die offizielle Meinung behauptete.
Bei der Ermittlung der Löhne muss die Erkenntnis des wirklichen Lohnverdienstes postuliert werden. Denn der sogen. Stundenlohn besagt nur, wieviel ein Arbeiter unter Annahme bestimmter Arbeitsstunden in einer Woche, in einem Jahr verdienen kann. Bei Stücklohnsätzen kann der Verdienst mit den Zeitlohnsätzen nur nach Annahme einer bestimmten Arbeitsdauer pro Stück und einer bestimmten Arbeitsdauer verglichen werden. Indem man den vollbeschäftigten Arbeiter als typisch zugrundelegt in Zeiten, in denen ein grosser Teil der Arbeiter nicht voll beschäftigt ist, erweckt die Statistik ein dem Kapitalismus freundliches Bild. Entsprechend pflegt dieser in seiner Argumentation auf die Lohnhöhe der beschäftigten Arbeiter hinzuweisen und die Arbeitslosigkeit nicht zu berücksichtigen. Ferner werden die Lohnstatistiken durch Betrachtung ausgewählter, sogen. typischer Fabriken gewonnen. Geschickte Auswahl kann also das Resultat in der gewünschten Richtung verändern, besonders, wenn die Löhne stark schwanken. Zu einer ordnungsmässigen Lohnstatistik wäre auch eine genaue Statistik der Arbeitszeiten vonnöten, und als Ergänzung eine Statistik der Arbeitslosigkeit. Diese Frage hat natürlich auch einen selbständigen Wert. Die Arbeitslosen sind ein deutlicher Konjunkturmassstab, ein Symptom für den instabilen Charakter des kapitalistischen Systems. Dabei kommt es auf die Dauer der Arbeitslosigkeit und ihrer Zusammensetzung an. Das Endziel wäre, die Zahl der arbeitslosen Stunden eines Jahres zu ermitteln, um daraus zu ersehen, wie gross die industrielle Reservearmee ist, auf die sich der Kapitalismus in seinem Bestreben, die Löhne zu drücken, stützt. Die genaue Kenntnis der Arbeitslosigkeit wird meistens verschleiert durch die zugrunde gelegte offizielle Definition, welche verschiedene wirkliche Formen der Arbeitslosigkeit ausschliesst. Dies hängt natürlich mit dem Bestreben zusammen, die Zahl der unterstützten Arbeitslosen möglichst gering zu halten.
Ein anderes Problem der Arbeitsstatistik sind die Betriebsunfälle. Hier müssen wir wissen die Zahl und Ursache der Unfälle, ihre Verteilung auf die verschiedenen Industrien und vor allem das Mass der Schädigung, die sie herbeiführen. Massgebend dabei ist nicht die absolute Häufigkeit der Unfälle, sondern der Vergleich mit der Zahl der Werkstunden oder Arbeiter, oder die Zahl der durch sie herbeigeführten verlorenen Arbeitsstunden verglichen mit der Gesamtzahl aller Arbeitsstunden. Dabei entsteht die Schwierigkeit, dass die verschiedenen Wirkungen, Tod, volle, partielle und zeitlich beschränkte Erwerbsunfähigkeit, untereinander verschieden sind. Erst aus solchen Kenntnissen heraus können wir die fabriktechnisch notwendigen Folgerungen ziehen. Wesentlich ist dabei vor allem, ob die Ursache des Unfalls eine systematische ist, etwa weil ein Unfall für die Fabrik billiger kommt als die zu seiner prinzipiellen Vermeidung notwendigen Massnahmen. Selbstverständlich haben die Kapitalisten an der Bekanntgabe dieser Tatsachen kein Interesse.
Das ungeheure Gebiet der Steuerstatistik können wir hier nur streifen. Der wesentliche Punkt ist die Untersuchung, ein wie grosser Teil der Steuern vom Kapital und
ein wie grosser von der Arbeit getragen wird. Der alte Kampf der Sozialisten gegen die indirekten Steuern gewinnt eine wesentliche Hilfe durch den Nachweis, dass gerade die ärmste Bevölkerung regelmässig die grössten Lasten zu tragen hat, sodass die scheinbare Progression der direkten Steuern eine Regression ist. Endlich interessiert auch die Steuerüberwälzung, welche die Frage löst, wer eine Steuer wirklich trägt.
An den alten Streit um Erziehungs- oder Schutzzölle sei nur erinnert. Hier fragt es sich, wie die aus den Getreidezöllen erwachsenen Lasten verteilt sind. Nur der Grossgrundbesitzer profitiert tatsächlich von diesen Zöllen, während die Arbeiter und Kleinbauern darunter leiden. Trotzdem ist es dem Grossgrundbesitz regelmässig gelungen, in der Frage der Getreidezölle auch die Kleinbauern auf seine Seite zu bekommen. Dies ist nur ein Spezialfall der bekannten Tatsache, dass die Menschen nicht nach ihren Interessen handeln, sondern nach dem, was sie für ihre Interessen halten, insbesondere nach dem, was von interessierter Seite ihnen als ihr Interesse beigebracht wird.
In den Auseinandersetzungen, mit deren Hilfe die Kapitalisten die Oeffentlichkeit von der Berechtigung ihrer Ansprüche überzeugen wollen, spielte eine Zeitlang die Behauptung vom Rückgang der volkswirtschaftlichen Kräfte gegenüber der Vorkriegszeit eine grosse Rolle. Hieraus, so wird argumentiert, folgt, dass es nur Mittel zur Verbesserung der gesamten Wirtschaftslage gibt von der Art wie Senkung der Löhne, Abbau der etwa vorhandenen Sozialpolitik, Erhöhung der Stuudenzahl der Arbeit. Es wird als selbstverständlich hingestellt, dass nur die Arbeiter die notwendigen Lasten zu tragen hätten, wahrend man von einem freiwilligen Verzicht auf Gewinne noch nie gehört hat. Die Begründung solcher Forderungen gehört in das Gebiet der Wirtschaftsstatistik und zwar wird sie der Konjunkturkunde entnommen. Sie stellt uns eine eminent praktische Aufgabe, nämlich die Krisen nachzuweisen, von denen der Kapitalismus - nach unserer Auffassung mit Notwendigkeit - von Zeit zu Zeit erschüttert wird. Statistisch lautet das Problem, eine Synthese herzustellen, in der die Schwankungen der verschiedenen als symptomatisch erkannten Erscheinungen eingehen. Aber bekanntlich verhalten sich nicht alle diese Erscheinungen in gleicher Weise. Daher gilt es, Paralellismen, Korrelationen und gegensätzliche Entwicklungstendenzen zu werten. Manche Autoren versuchen, die gesamte Konjunkturkunde in eine General-indexziffer zusammenzupressen.
Aber die gesamte Wirtschaftslage ist statistisch ausserordentlich schwer zu erfassen. Vorhanden sind tatsächlich nur Anhaltspunkte, wie etwa die Zahl der Erwerbstätigen, die Grösse der Arbeitslosigkeit, die Menge der auf den Eisenbahnen verfrachteten Güter, die Höhe der Kohlenproduktion, eine oberflächliche Schätzung der Ernte usw. Dabei interessiert der Vergleich mit den jeweiligen Friedenszahlen. Als Friedenszahl aber darf man nicht etwa die willkürliche Zahl von 1913 oder Anfang 1914 nehmen, sondern den Durchschnitt der Zahlen der letzten Jahre. Dabei ist zu beachten, dass die Zahlen vergleichbar sein müssen. Vielfach ist diese Forderung garnicht durchführbar, weil unterdessen sich die Wirtschaftsformen geandert haben und neue Methoden aufgetaucht sind. Die Gütermenge auf den Eisenbahnen z.B. muss heute ergänzt werden durch die Menge, die durch Kraftwagen verfrachtet wird, usw. Wenn die Vergleichbarkeit durchgeführt ist, so ist das grosse Problem, aus den Schwankungen der einzelnen Erscheinungen eine Gesetzmässigkeit abzuleiten.
Dies führt weit über den Raum der bisher betrachteten allgemeinen Statistik hinaus. Denn das Problem der Herausholung dieser Gesetzmässigkeit aus Schwankungen lässt sich nur mit Hilfe der mathematischen Statistik lösen. Sie gibt die Methoden an, mit deren Hilfe man durch Ausgleichungen zufällige Schwankungen beseitigt, sodass man das Gesetz der Erscheinungen erkennt.
Für den Wert der bisherigen Konjunkturkunde ist bezeichnend, daß in dem Land, wo sie die grösste Rolle spielt, in Amerika, das wichtigste Konjunkturmerkmal, die Zahl der Arbeitslosen, unbekannt ist.
V. So sehen wir, dass es neben den natürlichen, d.h. im Wesen jeder Statistik beruhenden und den sozialen, d.h. im Wesen des herrschenden Wirtschaftssystems beruhenden Hemmungen der Statistik auch methodische Hemmungen gibt. Sie sind gekennzeichnet
durch den Gegensatz der allgemeinen und der mathematischen Statistik. Die Erkenntnis statistischer Gesetze ist der gewöhnlichen Statistik im allgemeinen versagt. Sie kann nur durch einen weiteren Ausbau der mathematischen Statistik gefördert werden. Wenn wir hier Forderungen nach grösserer Genauigkeit der Erhebung, nach methodologischer Richtigstellung der Ausbeutung des Urmaterials, endlich nach Verwendung neuer Methoden stellen, so darf dies keineswegs aus propagandistischem Interesse allein geschehen, das beweisen will, wie vieles faul ist innerhalb der in den kapitalistischen Staaten vorhandenen Statistik. Wir dürfen es nur dann tun, wenn wir für das Proletariat dieselben Pflichten anerkennen.