Walter Benjamin
Karl Kraus

In ihm ereignet sich der grossartigste Durchbruch des halachischen Schrifttums mitten durch das Massiv der deutschen Sprache. Man versteht nichts von diesem Mann, solange man nicht erkennt, dass mit Notwendigkeit alles, ausnahmslos Alles, Sprache und Sache, für ihn sich in der Sphäre des Rechtes abspielt. Nicht genug, dass die Zeitung alltäglich ihm ein einziges Konvolut von Strafanzeigen ins Haus bringt, - seinen Augen, die zwischen den Zeilen lesen, entgeht nicht, wie alle die namenlosen Angeber mit ihren Anklagen, so begründet sie sind, sich selber vergangen haben. Seine ganze feuerfressende, degenschluckende Philologie der Journale geht ja im Grunde nicht der Sprache, sondern dem Recht nach. Man begreift seine sprachlichen Untersuchungen nicht, erkennt man sie nicht als Beitrag zur Strafprozessordnung, begreift das Wort des Andern in seinem Munde nur als corpus delicti, ein Heft der ‘Fackel’ nur als Termin. Um ihn türmen sich die Prozesse. Nicht die, die er vor wiener Gerichten zu führen hat, sondern die, deren Gerichtsstand die ‘Fackel’ ist. Kraus aber, als Ankläger, legt Berufung ein. Unter seinen selbstverhängten Urteilen tut ihm keines genug. Er gibt das beispiellose, zweideutige, echt dämonische Schauspiel des ewig Recht heischenden Anklägers, des Staatsanwalts, der ein Michael Kohlhaas wird, weil keine Justiz seiner Anschuldigung, keine seiner Anschuldigungen ihm selber Genüge tut. Die sprachliche und sittliche Silbenstecherei dieses Mannes meint nicht Rechthaberei, sie gehört zu der wahrhaft verzweifelten Gerechtigkeit einer Verhandlung, in der die Worte und Dinge, um ihren Kopf zu retten, das verlogenste Alibi sich ersinnen, und unaufhörlich durch den Augenschein oder die nackte Rechnung widerlegt werden müssen. Dass dieser Mann, einer der verschwindend wenigen, die eine Anschauung von Freiheit haben, ihr nicht anders dienen kann, denn als oberster Ankläger, das stellt seine gewaltige Dialektik am reinsten dar. Ein Dasein, das eben hierin, das heisseste Gebet um Erlösung ist, das heute über jüdische Lippen kommt.