Kurt Schwitters
Urteile eines Laien über neue Architektur

Die Hauptfehler der heutigen Architektur sind Individualismus des Architekten und Grössenwahn des Bauherrn. Jeder Architekt, und wenn er noch so unbedeutend ist, baut individuell, und er muss individuell bauen, weil er sonst nicht die Möglichkeit sieht, Aufträge zu erhalten. Es muss eben was Besonderes sein. Daher kommen die vielen Gesuchtheiten und Blödheiten, die gesetzlose Willkür. Der gesunde und starke Individualismus liesse sich aber immer noch ertragen, denn falls er sehr stark ist, schafft er manchmal persönlich die wenigen starken und gesunden Neuerungen.

Ebenso schlimm ist der Grössenwahn der Bauherrn. Jeder Bauherr, und wenn er noch so wenig Baugeld hat, möchte ein Schloss haben. Und so resultieren aus dem Individualismus der Architekten und dem Grössenwahn der Bauherrn jene Talmischlösser, in denen der Grossstädter wohnt. Wenn es nur wirklich ein Schloss würde, so wöre es ja nicht abzulehnen, aber es wird talmi, so wie der Bewohner auch kein Fürst ist. Der Architekt nimmt vom Schloss nicht etwa die Sorgfalt der Durcharbeitung, nicht etwa das gute Material, sondern nur die Tatsache, dass viele unnötige Verzierungen daran sind. Er rechnet dann damit, dass der Bauherr doch sowieso nicht beurteilen kann, ob solch eine Verzierung gut ist oder nicht, und nimmt daher den allerbilligsten Schmarrn und klebt ihn an seine Schlösser. Und wenn er bloss einmal ein Paar Steine herauszieht oder auf die Seite legt, es sieht doch immer ein bischen nett aus, es riecht nach Schloss. Dazu kommt, dass er selbst nicht die Fähigkeit besitzt, zu beurteilen, an welcher Stèlle eine Verzierung als besonderer Akzent sitzen könnte, und so sitzt sie eben beliebig. In diesem Stil sind heute leider 99% aller Grosstadthäuser erbaut. Was du geklaut von Deinen Vätern hast, erbau es, um es zu besitzen. Jeder Architekt ist eben kein Licht. Aber er muss es vortäuschen, sonst verdient er nichts. Es bestand einmal so etwas wie ein Typ für Höuser. Meier hatte den Typ, und Müller wollte ihn auch haben. Der Bauherr verlangte diesen Typ, und der Archi-

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Ir. S. VAN RAVESTEYN

INTERIEUR HUIS TE UTRECHT PLATTE GROND




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tekt konnte im besten Falle geringe Veränderungen, kleine Verbesserungen an dem Typ vornehmen. Die Wirkung war garantiert, weil schon Generationen vor ihm gedacht und gearbeiteit hatten. Der Architekt von heute, ich meine den durchschnittlichen, will zwar auch nicht denken, abes es fehlt der Typ, und der fehlt uns heute. Der Ton ist auf gut und nicht auf neu zu legen. Nicht neuer, sondern besser, dann wird der Typ schon kommen. Aber dazu muss der Architekt denken lernen. Als Typen entstanden früher die guten Niedersächsischen Bauerhäuser, die Amsterdammer Bürgerhäuser, die vorgekragten Fachwerkhäuser Hildesheims. So entstehen heute die Maschinen, das Auto, alle Dinge, die funktionieren sollen; die Funktion des Wohnhauses wird leider nicht anerkannt. Das Prinzip ist: ‘Verbesserungen’, die neue Architektur dagegen beginnt immer von vorn und weiss nicht, wo sie anfangen soll.

Das Alte behagt nicht mehr, und das ist gut,

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soziale Bedingungen zwingen zu anderer Einstellung, und der kleine Architekt versucht den neuen Anfang beim Talmischloss nach alter Manier, wie er sich eben die neue Zeit vorstellt.

Die meisten denken an eine neue Form. Nur die wenigen Begabten wissen, dass es sich heute um eine neue Gesinnung handelt.

Der Anfang liegt nicht in der neuen Form, sondern in der Erkenntnis der neuen gesellschaftlichen Zusammensetzung. Gegenüber der chaotischen Gesellschaft braucht der Architekt innere Disziplin. Das erreicht man nicht durch Schlagworte oder grosse Geste, sondern nur durch Denken. Und Erfahrung. Heute muss der Architekt Führer sein und nicht nur private Wünsche der Bauherrn befriedigen.

Erforschen neuer Konstruktionsmethoden, Befriedigung sozialer Bedürfnisse, Erkennen der guten Lösungen und Weiterarbeiten auf den Erfahrungen, das sind unsere Schlösser, das sind die Ziele der Architektur. Es gibt schon viele begabte Architekten, zugegeben, die ehrlich und richtig arbeiten, aber selbst manche von den Begabten befinden sich noch befangen in formalen Hemmungen. Aber das bedaure ich am meisten, weil diese formalen Hemmungen der Begabten die ganze Entwicklung am meisten hemmen. Zugegeben soll sein, dass man oft nur schwer erkennen kann, wo solch eine formale Hemmung sitzt, aber der Architekt selbst muss es ganz genau selber wissen, warum er etwa einen Schornstein von der Mitte des Hauses oben in die Front vorgezogen hat, warum er Eisenbetonsäulen ins Zimmer baut, warum er etwa hier und da Klinker verwendet. Das kann alles unter Umständen richtig sein, man muss sich aber immer fragen, ob es vielleicht doch Dekoration ist. Ich bin Künstler, und zwar Kunstmaler. Ich liebe die Kunst sehr. Sie ist sogar heute in der Zeit sozialer Architektur nicht etwa überflüssig, sondern sehr wichtig. Aber ich bin für saubere Trennung. Die Architektur ist nicht da zur Befriedigung unklarer künstlerischer Triebe. Man sollte sich lieber in der Malerei gründlich ausleben, dann hat man sich abreagiert und betrachtet die Architektur ganz klar und sachlich.



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TENTOONSTELLING ‘NEUES HAUS’ BRÜNN, TSJECHO-SLOWAKIJE 1928

Zie ook: i 10, 19, blz. 136.