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MOHOLY-NAGY
FOTOGRAMM


Moholy-Nagy
Fotogramm und Grenzgebiete

der technische vorgang des fotogramms ist bekannt. das rezept dafür kann in kürzester zeit einem jeden gegeben werden. hingegen ist das unmöglich für den formschöpferischen prozess bei den fotogrammen: die unbeschreibliche wirkung der licht- und schattenerfüllten flächen in ihren hell-dunkel-relationen, das strahlende weiss, das mit dem tiefsten schwarz kontrastiert, oft in feinste grauwerte aufgelöst, über das ganze fliesst, war in der bisherigen malerei unbekannt und ist mit den bisher geläufigen begriffen nicht erklärbar. in einem satz formuliert: unsere optischen ausdruckwünsche können sich heute nach der durch das licht gegebenen erkenntnisstufe richten.

die erfindung der fotografie, die einführung der hochwertigen künstlichen lichtquellen, die regulierbarkeit der beleuchtungseffekte sind die elemente einer erneuerung für die optische gestaltung geworden.

 

bis gestern bedeutete die ‘malerei’ die spitze der optischen gestaltung. ihr sinn war, dass sie mit der verschiedenen reflexionsfähigkeit der verschiedenen farbstoffe arbeitete. soweit ein farbstoff das licht zurückzuwerfen oder zu schlucken imstande war, wurde er für die gestaltung eines angestrebten optischen ergebnisses, das im grunde die welt im spiele des lichtes wiedergeben sollte, verwendet. es besteht kein zweifel darüber, dass diesem vorgang gegenüber eine direkte strahlung des lichtes selbst eine viel intensivere wirkung erzeugen könnte, wenn sie in demselben masse beherrscht würde, wie die pigmentmalerei. und in der tat, das ist

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das zukunftsproblem der optischen gestaltung: die gestaltung des direkten licktes. damit wird der pädagogische wert einer manuellen pigmentmalerei für das individuum nicht bestritten, doch wird sie ihre tradionelle wertung, sie wäre allein die quelle der ‘kunst’, einbüssen. es scheint so, dass das fotogramm die brücke zu einer neuen optischen gestaltung ist, die nicht mehr mit leinwand, nicht mehr mit pinsel, nicht mehr mit farbstoff, sondern mit reflektorischen spielen, mit ‘beleuchtungsfresken’ durchgeführt werden wird. bei dem fotogramm verschwindet bereits die grob-materielle formung mittels pigment; die bisher sekundäre materialisation des lichtes wird unmittelbarer. das licht wird in seiner direkten strahlung fluktuierend, oszillierend fast ohne umsetzung erfasst. und wenn auch von der materiellen wirkung noch spuren übrig bleiben, indem das licht bei den fotogrammen in der lichtempfindlichen schicht in ein fast

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FOTOGRAMM


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stoffloses material umgesetzt wird, zeigt sich schon der zukünftige weg zu einer sublimierteren, optischen ausdruckform.

 

diese fassung führt zu einer ausserordentlichen verfeinerung der optischen ausdrucksmittel und gleichzeitig des optischen gestaltungsproblems. ihre fruchtbaren folgen sind heute noch nicht abzusehen. forderungen und ergebnisse überschneiden sich hier: die manuelle malerei wird zur ‘maschinellen malerei’, ohne dass man angst zu haben braucht, dass die schüpferischen leistungen durch die maschinenarbeit auf ein durchschnittsnivo herabgedrückt werden.

in wahrheit ist neben dem schöpferischen geistigen prozess des werkentstehens die ausführungsfrage nur insofern wichtig, als sie bis aufs äusserste beherrscht werden muss. ihre art dagegen - ob persönlich oder durch arbeitsübertragung, ob manuell oder maschinell - ist gleichgültig.

 

allerdings ist die praxis mit der theoretischen klärung noch lange nicht erfasst. die schwierigkeiten sind hier ökonomischer natur. die versuche zu einer neuen optischen gestaltung können keine privatarbeiten mehr sein. sie sind ohne grössere mittel, ohne laboratoriumseinrichtungen, projektionsapparate, scheinwerfer, polarisationsgeräte und andere optische instrumente usw. nicht mehr durchführbar. ein kleiner trost, dass ein provisorisches abtasten des gebietes durch einige aufgaben ermöglicht wird, die bisher zweckbetont mit fremdem kapital finanziert, aber nicht im strengen sinne als optische leistungen verstanden worden sind. so z.b.:

arbeiten mit lichtapparaturen auf der bühne, bei meetings, ausstellungen, lichtreklamen (lichtwoche) usw.

 

doch die wirklichen quellen einer erneuerung wären lichtstudios, die an stelle der überlebten malerakademie treten und sich endlich mit heute wesenhaften mitteln des ausdrucks befassen müssten. staat und kommunen geben heute noch millionen für einen veralteten kunstbetrieb aus, und es wäre mehr als gerecht, wenn das heute realisierbare auch unterstützt werden würde, anstatt es als utopie beiseite zu schieben.