Drittes Kapitel
‘Staat’ und ‘Kirche’, Kaiser und Reich, Universalgedanke und Staatenbildung in ihrem Verhaeltnis zur Politik Ottos III.
Zunächst fordert die Stellungnahme des Kaisers zu den Verwaltungsangelegenheiten eine Erörterung. Hier wird sich ja jede Unterbrechung einer kontinuierlichen Politik sofort in der Kanzleipraxis bemerkbar machen; die Kanzlei ist vor allem der Ort, wo die primären Bedürfnisse der Untertanen registriert werden, wo die Regierungsbehörden unmittelbar auf die Aenderungen im sozialen Leben reagieren. Die Form dieses Reagierens ist abhängig von den Gebräuchen der Kanzleibeamten, indem diese wieder die Wandlungen der Politik spiegeln. Deshalb ist die Urkundenkritik180 auch für die politische Geschichte besonders wichtig; und nicht der geringste Fehler Giesebrechts war es, dass er eben die Urkunden Ottos III. nur unsystematisch und ohne ihre Vorgeschichte zu beachten, herangezogen hat181.
Die Uebergangsperiode zwischen der Regierung Ottos II. und der selbständigen Zeit Ottos III. bildet die ‘Regentschaft’ der Kaiserinnen Theophano und Adelheid182. Ueber die Teilung der tatsächlichen Herrschaft und der offiziellen Befugnisse lauten die Urteile sehr verschieden183; jedenfalls kann von einer ‘Regentschaft’ nur praktisch die Rede gewesen sein, weil Otto in den Urkunden vom Anfang an als selbstregierend erscheint184. Diese Fiktion bestätigen die Quellen wie z.B. Thietmar und die Hildesheimer und Quedlinburger Annalen. Theoretisch existiert demnach die Lücke der Minderjährigkeit (983 bis 994) nicht185; die königliche Tradition bleibt nach der Beseitigung des ‘Patronus legalis’ Heinrich von Bayern im Jahre 984 unerschütterlich. Allerdings urkundet Theophano in Italien einmal als ‘Theophanius imperator’186 aus eigener Machtvollkommenheit; aber mehr als
eine Unterstützung der staatsrechtlichen Ansprüche ihres Sohnes kann man darin schwerlich entdecken187. Offenbar war die Unmündigkeit schon in dieser Zeit keinesfalls eine wichtige Schwierigkeit, wie sich aus der baldigen allgemeinen Anerkennung Ottos im Jahre 984 bereits ergibt188.
Indem so dem Namen nach das sächsische Kaiserhaus sich während der Minderjährigkeitsperiode behauptet hat, wird
auch die traditionelle Politik der Ottonen ohne bedeutende Aenderungen fortgesetzt. Wie Kehr dargelegt hat189, haben die Intervenienten Theophano, Adelheid, Willigis von Mainz und Hildibald von Worms vornehmlich die Richtung dieser Politik angegeben. Er unterscheidet dabei drei Perioden; erstens: Okt. 984-Anf. 985 (Theophano und Adelheid regieren mit den beiden Bischöfen); zweitens: 985 bis zum Tode Theophano's, 15. Juni 991 (Theophano regiert mit Willigis und Hildibald); drittens: 991 bis zur Selbständigkeit Ottos, Ausg. 994 (Adelheid, Willigis und Hildibald regieren). Wenn auch diese Einteilung der Regierungsperioden in Einzelheiten noch zweifelhaft sein mag190, in grossen Linien ist sie unbedingt richtig. Gerade aber weil die Politik der ‘Regentschaft’ sich durch eine vorsichtige, durchschnittlich konstante Richtung auszeichnet, sind die Unterschiede innerhalb dieser Periode wenig markiert. Von einem ‘aristokratischen Reichsregiment’, das nach Giesebrecht eine anwachsende Macht der Sondergewalten beweisen sollte191, ist auch nach dem Tode der Theophano nicht die Rede192. Kehr schliesst auf eine regelmässige Verwaltung, auch bei den lokalen Mächten, ‘deren Wirksamkeit sich aber auf ihre eigentümliche Machtgebiete beschränkt, woraus zwar ein Erstarken dieser Sonder-
gewalten, nicht aber eine Beteiligung derselben an der Reichsregierung folgt’193.
Die Beziehungen zu Italien sind auch während der Minderjährigkeit Ottos immer sehr rege geblieben194. Es vollzog sich aber, nachdem Otto selbst die Regierung übernommen hatte, eine wichtige methodische Aenderung, die Kehr mit Recht eine Tatsache nennt, ‘welche unter allen Zeugnissen, die uns über die Tendenz der Politik Ottos III. überliefert sind, die erste Stelle einnimmt’195. Diese Aenderung ist die Verschmelzung der deutschen und italienischen Kanzleien. Die Karolinger hatten die italienischen Angelegenheiten mit den übrigen in einer und derselben Kanzlei behandelt. Dagegen gründete Otto I. eine besondere italienische Kanzlei, die Otto II. und auch die ‘Regentschaft’ beibehalten haben. Otto III. aber ergriff eine entgegengesetzte Methode. Die italienische Kanzlei, deren Geschichte bis 996 ziemlich im Dunkel liegt, vereinigte er nach einer Uebergangszeit von 996 bis 998 mit der deutschen, nachdem der Kanzler Hildibald von Worms im Aug. 998 gestorben war. Haupt der beiden Kanzleien wurde der Erzbischof Heribert von Köln196; eine entschiedene Italienisierung der Kanzlei macht sich bemerkbar197. Zweifellos bedeutet das ein Bruch mit der Vergangenheit und gewissermassen eine ‘Rückkehr’ zur karolingischen Politik. In derselben Zeit zeigt sich eine Neigung
zur individualistischen Auflösung der notariellen Gebräuche, an der die von rastloser Energie und überströmender Aktivität erfüllte Politik Ottos sicher nicht unbeteiligt gewesen ist. Die Intervention wird seltener, neue Personen treten auf, am häufigsten Heribert, weiter auch Gregor V., der Reformpapst, Gerbert, der einflussreiche Hugo von Tuscien und der italienische Kanzler Petrus von Como. Seit 997 findet eine Verschiebung des Machtzentrums von Deutschland nach Italien statt.
Wir haben darin einen Beweis, dass die Urkunden Ottos Neigung zu Italien bestätigen, aber es zeigt sich gleichfalls, dass diese Neigung keine bloss gefühlsmässige Sympathie war, und dass der Kaiser sich nicht in sterilen Phantastereien erging, sondern sich energisch der zu Verfügung stehenden praktischen Mittel bediente198. Wenn man also mit Kehr von einer ‘Rückkehr zu den karolingischen Ideen von der Einheit des Reiches’199 sprechen will, so ist das nur unter der Bedingung erlaubt, dass man diese ‘Rückkehr’ nicht als eine unbegründete, schwärmerische Vorliebe für die Vergangenheit betrachtet. Allerdings ist ein praktischer Gegensatz zwischen der fiktionalistischen und der selbständigen Herrschaft Ottos aufzuweisen; mehr aber als auf eine neue, aus der Luft gegriffene Politik deutet das auf eine bewusste Fortsetzung der traditionellen ottonischen Reichspolitik, auf eine Umgestaltung der Mittel, um die alten Ziele zu erreichen.
Wir glauben, dass gerade in dieser Hinsicht die Erörterungen Kehrs fehlgreifen. Seine Behauptung: ‘Das Bild, das uns die Urkunden aus der letzten Zeit Ottos III. bieten, ist das des Verfalles der Kanzlei, und die sich auflösende Kanzlei bietet wiederum das Bild des aus den Fugen gehenden Reiches dar’200, geht von einer falschen Vorausset-
zung aus. Mannigfaltigkeit der Formeln und wiederholter Wechsel der Notare zeigen zwar, dass die Kanzleipraxis weniger regelmässiger vor sich geht, dass also die Regierung sich nicht auf die üblichen Verwaltungshandlungen beschränken kann; es wäre aber allzu formalistisch, daraus eine Auflösung des Reiches abzuleiten, von der im übrigen überhaupt nichts überliefert worden ist201. Dazu stützt sich die Theorie Kehrs auf ein Argument, das wir kraft unserer Auffassung vom Wesen der mittelalterlichen Ecclesia abweisen müssen. Aus der eigentümlichen Titulatur in den Urkunden Ottos III. schliesst er nämlich, dass in den Bezeichnungen ‘servus Jesu Christi’ und ‘servus apostolorum’, welche in der späteren Zeit als Titel des Kaisers auftauchen, ‘die sonderbare und krankhafte Vermischung von christlich demütigen und imperialen Vorstellungen in so prägnanter Weise zum Ausdruck kommt’202. Schon Giesebrecht hatte die Titulatur Ottos herangezogen als einen Beweis, dass der Kaiser mit einer realen Politik gebrochen hatte und sich in dieser Periode nur noch krankhaften Uebertreibungen hingab; sogar die Ausdrücke ‘Romanus’, ‘Saxonicus’ und ‘Italicus’203
betrachtete er als Demonstrationen seines weltfremden Imperialismus204. Wie bereits Kehr darlegt205, entstammen diese letzten Bezeichnungen nicht einmal der Kanzlei und sagen demnach nichts Sicheres über die politischen Ideen Ottos aus. Obendrein verwendet schon unter Otto II. die Kanzlei den Titel ‘Romanorum imperator augustus’; Kehr meint, dass dergleichen Qualifikationen entweder eine ‘antiquarische Reminiszenz206’ oder eine Stellungnahme zum byzantinischen Kaisertum enthalten207. Um so mehr aber legt er auf die Titel ‘servus Jesu Christi’208 und ‘servus apostolorum’209, sowie auf die Siegelvariationen hohen Wert, ‘denn sie drücken’ nach ihm ‘in der Tat aus, was des Kaisers Sinn bewegte’210. Diese Auffassung ist allerdings begreiflich, wenn man die in der Diplomatik gangbaren Anschauungen hinsichtlich der Formel des Protokolles vor Augen hat. Die Urkundenkritik, welche möglichst genau die individualistischen Elemente aus der Titulatur der Kanzlei während der Regierung Ottos III. absondern will, geht dabei a priori von der bloss formalen Bedeutung der sonst üblichen Terminologie aus, weil diese Formeln regelmässig wiederkehren und offenbar bestimmten Vorschriften entsprechen. Man vergisst dabei aber, dass die zeitgenössischen Chroniken und Annalen, wie wir oben gesehen haben, einer so formalen Auffassung völlig widersprechen. Es ist schon eine anachronistische Verall-
gemeinerung, aus der Ueblichkeit einer Formel ihre geistige Gehaltlosigkeit abzuleiten211; denn die Ueblichkeit beweist eben nur, dass der geistige Gehalt Gemeingut gewesen ist, keineswegs, dass die Formel nichts mehr als ein leerer Kanzleibrauch war! Die Quellen zeigen gerade das Gegenteil; und selbstverständlich schliesst das Fehlen eigentümlicher augustinischer Ausdrücke, worauf wir oben S. 80 schon hingewiesen haben, keine kulturelle Ausnahmestellung der Urkunden ein.
So ist es, sogar bei einer oberflächlichen Kenntnis vom Dogma der Dreieinigkeit im Mittelalter wohl einleuchtend, dass die Invocatio ‘in nomine sanctae et individuae trinitatis’212 für den mittelalterlichen Menschen niemals eine bloss formale Einleitung gewesen sein kann. Dennoch ist sie, auch unter Otto III. allgemeiner Kanzleibrauch. Daraus geht hervor, wie eng dieser Glaubensartikel mit der Lebenspraxis verwachsen war; hingegen ist es unzulässig, hier von einer traditionellen Formalität zu sprechen, weil die notarielle Handlung zwar berufsmässig (folglich regelmässig) ausgeübt wurde, aber durchaus nicht zu einer inhaltsleeren Ausschmückung erstarrt war. Ein ähnliches Verhältnis findet man bei der Titulatur. Die Formel ‘Otto divina favente clementia rex’ und ‘Otto divina favente clementia imperator augustus’ (mit Varianten)213 sind von Otto II. auf Otto III. übergegangen. Man kann sie also als üblich bezeichnen. Wie wenig man ihnen aber gerecht wird, wenn man sie nur formal auffasst, ergibt sich aus dem obigen Literaturüberblick; die Chronik Thietmars z.B. stellt das Verhältnis zwischen König und Gott als etwas sehr Reales, Kontrakt-
mässiges dar. Als treffendes Beispiel führen wir seine Notiz über die Versammlung bei Rara an, die sich auch in den Quedlinburger Annalen findet. Die Entscheidung zu Gunsten Ottos über die königliche Würde wird hier von Gott selbst durch eine Naturerscheinung gegeben: ‘Stella a Deo predestinati rectoris media die cernentibus universis clara refulsit...’214. Unmittelbar, materiell, gibt die göttliche Vorsehung ihren Willen zu erkennen; sie dementiert den Tyrannus und schreitet für den auserwählten König ein. Es wäre demnach wohl undenkbar, dass die Formel ‘divina favente clementia (providentia)’ sich dieser Form des Denkens gegenüber anders verhalten würde, da doch sogar ein Politiker wie Gerbert gänzlich an die Grundlinien der Zeitanschauungen gebunden ist! Ganz entschieden drückt auch die diplomatische Formel einen realen, lebendigen Begriff aus und ihr regelmässiges Vorkommen erklärt sich nicht durch eine formale Abgenutztheit, sondern vielmehr durch eine Allgemeingültigkeit, die sich mit der alltäglichen Praxis abgefunden hat.
Diese begriffliche Allgemeingültigkeit, die, im Gegensatz zur Tragweite der modernen amtlichen Formel, ein ‘Leben der Formel’ bedeutet, beleuchtet auch das Wesen der Varianten. Kehr und Sickel bemühten sich, die Individualität der Schrift, die Beziehungen des Schreibers zur Kanzlei u.s.w. auf Grund ihrer umfangreichen Kenntnis des urkundlichen Materials festzustellen; und der unschätzbare Wert dieser Untersuchungen ist wohl über allen Zweifel erhaben. Psychologische Motive aber haben sie kaum (und sicher nicht systematisch) in Erwägung gezogen. Wir haben oben S. 93 schon bezweifelt, ob es erlaubt ist, aus der indivi-
duellen Auflösung der Kanzleigebräuche einfach auf ein politisches Analogon zu schliessen; wir fügen jetzt hinzu, dass die Titulaturvarianten als Beweis dafür nicht in Betracht kommen. Denn auch bei einer möglichst tief durchgreifenden Auflösung der Kanzlei bleiben Varianten, wie sie sich während dieser Periode zeigen, unerklärlich, wenn man nicht eine lebendige Beweglichkeit der Formulierung voraussetzt215. ‘Willkür der Notare’ ist eine methodische, keine psychologische Bestimmung; denn eine solche Willkür wäre im voraus unmöglich gewesen, wenn man es hier mit einer starren Formel zu tun hätte. Unseres Erachtens macht Kehr diesen psychologischen Fehler, dass er der Beweglichkeit der Formulierung zwei verschiedene Massstäbe anlegt. Die üblichen Varianten, die auch schon unter Otto II. vorkommen, erklärt er als stilistische Unterschiede216, und er versucht nicht, dafür eine weitere psychologische Motivierung beizubringen; auch die von Giesebrecht mit Unrecht herangezogenen Ausdrücke weist er als Belege für Ottos phantastische Politik ab; die Titel ‘servus Jesu Christi’ und ‘servus apostolorum’ dagegen sind auf einmal ‘auf den Kaiser selbst zurückzuführen’217 und bedeuten für ihn deshalb eine entschiedene politische Kursänderung! Und dennoch muss auch Kehr gestehen, dass weitere Zeugnisse einer hyperindividuellen Politik hier nicht nachzuweisen sind218, dass die alten Titel daneben gebräuchlich bleiben, und dass die Neuerung ‘servus Jesu Christi’ sogar nach wenigen Monaten wieder ver-
schwindet219. Alle diese Umstände weisen vielmehr auf nebensächliche Kanzleieigentümlichkeiten hin, die freilich zusammenhängen mit der politischen Sphäre, keineswegs aber unmittelbar dem Kaiser zu entstammen brauchen oder mit krankhaften Ideen zu verbinden sind. Die Beweglichkeit der Formel überhaupt verbietet eine so weitgehende Folgerung.
Gewiss ist die Form der beiden Ausdrücke eigenartig; bedeutet aber ihr Inhalt eine Umwälzung der herrschenden Ideen? Wenn wir zurückgreifen auf unsere Ausführung über das Wesen des mittelalterlichen ‘Staates’ stelt sich heraus, dass gerade das Gegenteil der Fall ist. ‘Staat’ und ‘Kirche’ sind nicht als moderne selbständige Grössen aufzufassen, die einander bloss ‘beeinflussen’ oder sich gelegentlich ‘bestreiten’; ihr Zusammenhang ist unlösbar, weil für das mittelalterliche Denken die moderne Antithese nicht existiert. Wir haben oben S. 81 ff. schon versucht, aus allgemeinen Gründen die Periode Ottos III. und Silvesters II. in den Entwicklungsgang der Ecclesia einzureihen, nachdem wir die vorhergehenden und nachfolgenden Stadien (karolingisches Kaisertum und Periode des Investiturkampfes) skizziert hatten; weiter haben wir gezeigt, dass für die zeitgenössischen Quellen, einschliesslich auch der wichtigen Briefsammlung Gerberts, die augustinische Auffassung von pax und justitia normal ist. Nachdem wir schliesslich noch konstatiert haben, dass auch die übliche Formel der Urkunden nicht als eine Formalität, sondern als eine lebendige Aeusserung betrachtet werden muss, da lässt sich jetzt nicht die Frage umgehen, ob die Titulatur ‘servus Jesu Christi’ und ‘servus apostolorum’, deren unmittelbare Beziehung zur
Persönlichkeit Ottos so ausserordentlich zweifelhaft ist, nicht enger mit den Zeitanschauungen verknüpft ist, als man angenommen hat.
Dass der Fürst und seine Herrschaft nicht erschöpfend mit der Bezeichnung ‘weltlich’ (der Geistlichkeit gegenüber) charakterisiert werden, ergibt sich aus dem Verhältnis von Regnum und Sacerdotium. Die Welt überhaupt ist ja nur eine mangelhafte Vorstufe zum Himmelreich, hat nur ihre Bedeutung als solche220. Die Frage der Oberherrschaft, später eins der wichtigsten Probleme, ist also ursprünglich nicht prinzipieller Art221; Kaiser und Papst leiten beide ihre Gewalten aus dem Priester-Königtum Christi ab, wenn auch der Papst dabei als Verwalter der Sakramente manchmal den Vorrang gefordert hat222. Es liegt aber auf der Hand, dass diese päpstlichen Ansprüche nicht immer gleich kräftig erhoben werden konnten und dass sie abhängig waren von der politischen Lage; erst Gregor VII. hat sie systematisch umgebildet und dadurch dem augustinischen Gedanken eine entscheidende Wendung zu Gunsten des Pontifikates gegeben. Diese Wendung aber ist das Ergebnis vieler Konflikte, die in Augustins ‘Civitas Dei’ nicht vorgesehen waren und die durch die praktischen Reibungen der Gewalten hervorgerufen wurden. Beide Parteien stützten sich dennoch fortwährend auf die augustinische Tradition: die ‘Einheit der Ecclesia Dei mit ihrem Haupte Christus, dem rex und sacerdos, und in ihr die zwei von Gott gewollten Gewalten, die jede in ihrer Weise für das Gottesreich hienieden wirken’223. Auch der König also hat seine göttliche Mission, auch er ist der Diener der Ecclesia Dei auf Erden.
Zur Zeit Ottos III. war die Lage des Papsstums keineswegs erfreulich. Die Idee der päpstlichen Autorität muss wohl schon sehr eingewurzelt gewesen sein, dass sie sich damals wenigstens ideell noch allgemein geltend machen konnte! Von einer energischen Stellungnahme zum Kaisertum war aber in der Ottonenzeit nicht die Rede gewesen; weder Otto I. noch Otto II. fanden eine geistig ebenbürtige Persönlichkeit vor. Die Geschichte des Papsttums tritt zurück, wenn auch ihre ideelle Bedeutung gross bleibt.
Man weiss, wie die Selbständigkeit Ottos diese Verhältnisse modifiziert hat224. Ottos Römerzug 996 wurde unmittelbar veranlasst durch Streitigkeiten zwischen Papst Johannes XV. und dem ‘tyrannus’ Crescentius225. Johannes' Nachfolger war ein Verwandter Ottos, der Reformpapst Gregor V.226; nach dessen Tode am 18. Febr. 999 war es ein persönlicher Freund, Gerbert, der als Silvester II.227 die päpstliche Würde erhielt. Der Kaiser bleibt die leitende Figur; indem die beiden Mächte formell (nach augustinischer Tradition) in Eintracht die Welt regieren228, dominiert jetzt das cäsaristische Element in der Politik229. Stark tritt unter Otto III., im Gegensatz zur Zeit Heinrichs IV., die ‘weltliche’ Macht in den Vordergrund. Der Kampf um die Befugnisse innerhalb der Ecclesia mag sich gelegentlich bemerkbar
machen, im allgemeinen hat das Kaisertum die unbestrittene Hegemonie. Auch in den wichtigsten Quellen ist vom Papst nur selten die Rede; sein politischer Einfluss kam für Deutschland nicht mehr in Frage.
Sonderbar ist es also nicht, dass sich während der selbständigen Periode Ottos das Kaisertum stolz erhoben hat. In der geistigen Regierungsgemeinschaft von Kaiser und Papst konnte der Kaiser jetzt nachdrücklich seinen Anteil an der Verwaltung des Gottesreiches auf Erden beanspruchen, selbstverständlich ohne die ideelle Autorität des Papstes zu kränken (das wäre ja im Zusammenhang des mittelalterlichen Gedankenlebens undenkbar gewesen!), aber durch eine schärfere Abgrenzung seiner eigenen Position. Dafür zeugen die Ausdrücke ‘servus Jesu Christi’ und ‘servus apostolorum’. Der Kaiser und sein Kreis sprechen hier aus, wie sie sich die Organisation des christlich-imperialistischen Regierungssystems denken; sie leiten das Wesen der ‘weltlichen’ Obrigkeit unmittelbar vom Haupt der Ecclesia Dei, Christus, und von seinen Jüngern her; sie schalten nicht die päpstliche Autorität aus, sondern betonen nur, dass auch die Herrschaft des Kaisers himmlischer Herkunft ist. Dadurch wurde also keineswegs die Möglichkeit des Zusammenarbeitens der beiden Gewalten, die in der Tat unter Otto III. teilweise in Erfüllung ging, aufgehoben; und das Benehmen Gregors V. und Silvesters II. ist nur dann begreiflich, wenn man in Betracht zieht, dass nicht die Idee der päpstlichen Herrschaft, sondern die Idee der päpstlichen Oberherrschaft in dieser Zeit vergessen und folglich unfruchtbar war.
Wir dürfen jetzt diese eigenartige Formeln und ihre politische Tragweite vergleichen mit einer bekannten analogen Tatsache aus der Geschichte der Papsttums; wir meinen die Bezeichnung ‘servus servorum Dei’, die zum ersten Male Gregor der Grosse dem Patriarchen von Byzanz gegenüber, der sich ‘episcopus universalis’ nannte, gebraucht hat und die
seitdem Titel der Päpste geblieben ist230. Diese Bezeichnung (ob aus politischer Berechnung oder religiöser Uberzeugung geschaffen, muss hier dahingestellt bleiben231) drückt aus, wie wesentlich für die damalige Politik der augustinische Gegensatz von ‘superbia’ und ‘humilitas’, von Teufelssünde und Himmelstugend, war. Das Wort ‘servus’ ist hier also nicht als ein prahlerisches Minderwertigkeitszeugnis anzusehen, das obendrein im Mittelalter sinnlos gewesen wäre, sondern es vertritt eine religiös-gesellschaftliche Tendenz, eine Warnung, gerichtet gegen die superbia, die vergessen hat, dass man die weltlichen Güter als Vorbereitung zum Jenseits, und nur als solche, verwenden soll. ‘Servus Dei’ ist derjenige, der die humilitas beobachtet. Dieselbe Tendenz, welche dem Titel Gregors anhaftet, findet man im ottonischen Protokoll jetzt wieder. Der Kaiser behauptet ein Vertreter der humilitas zu sein, er wendet sich damit, wie wir später darzulegen haben, ebenfalls gegen das byzantinische Kaisertum und die byzantinische Reichspolitik. Zu gleicher Zeit tritt er durch die neuen Bezeichnungen für seine göttliche Mission neben dem Papst ein; er nimmt also beiderseits Stellung gegen die ‘Sklaven’ der superbia, kurz, er tut der Welt zu wissen, dass das ottonische Imperium in jeder Beziehung die Probe bestehen kann. Dafür spricht ausserdem noch die ganze Formel, die vollständig folgendermassen lautet: ‘Otto tercius servus Jesu Christi et Romanoruin imperator augustus secundum voluntatem dei salvatoris nostrique liberatoris’232 oder ‘Otto tercius servus apostolorum imperator augustus Romanorum’233. Wir sehen auch hier die
Beziehungen zum Gottesreich und zum Weltreich in möglichst enger Verbindung.
Es stellt sich also heraus, dass die Neuerungen in der Titulatur zwar die Politik Ottos III. kennzeichnen, dass sie aber eher die nachdrückliche Betonung einer konsequenten Reichspolitik als eine individuelle Laune symbolisieren. Hier liegt kein Gegensatz von ‘cäsaristischen’ und ‘asketischen’ Neigungen vor; hier wird nur die ‘geistliche’ Beschaffenheit der ‘weltlichen’ Herrschaft ausgedrückt. Wir sehen, dass mit der konstanten Politik der ‘Regentschaft’ nicht gebrochen wird, dass man im Kreise Ottos III. vielmehr die ottonische Politik seit Otto I., die sich auf die göttliche Mission des Kaisertums stützt, radikal zu vollenden wünscht.
Eine persönliche und krankhafte Eigentümlichkeit ist hier also im voraus ausgeschlossen, weil die Formel gerade die Normalauffassung vom theokratischen Kaisertum repräsentiert. Es gibt obendrein mehrere Belege dafür, dass diese Erweiterung und Verschärfung einer bewusst-theokratischen Politik sich nicht als das Phantom einer überspannten Seele erklären lässt. Wir haben früher schon vorübergehend über den politischen Kreis um Otto gesprochen, dessen Existenz wir jetzt ausführlicher nachzuweisen haben. Die Existenz eines derartigen Kreises wird ja unsere Meinung bestätigen, dass die Politik Ottos III. keine aus der Luft gegriffene Phantasie gewesen ist, sondern einen realen Anhalt im Gedankenleben der Zeitgenossen hat.
In Giesebrechts ‘Kaiserzeit’ sind es hauptsächlich Gerbert von Aurillac und Adalbert von Prag, welche in der Umgebung Ottos eine wichtige Rolle spielen. Sie vertreten die Elemente des innerlichen Zwiespaltes zwischen Welt und Askese, dessen Verkörperung Otto ja für Giesebrecht bedeutet. So hat sich die traditionelle Vorstellung verbreitet, der eigentliche Leiter der universalistischen Politik Ottos
sei Gerbert gewesen und seinem persönlichen Einfluss verdanke man die Richtlinien dieser Politik234. Diese Darstellung Giesebrechts stützte sich auf die an sich nicht unwahrscheinliche psychologische Annahme, dass die ältere und reifere Persönlichkeit Gerberts sich leicht der ungeformten Seele des jungen Kaisers hätte bemächtigen können. In der Tat ist ein solcher Einfluss als allgemeine Voraussetzung nicht undenkbar und im Zusammenhang der überlieferten Tatsachen auch durchaus nicht unmöglich. Der charakteristische Brief 186 beweist, wie bezaubernd die Kultur des Diplomaten auf Otto gewirkt hat. ‘Volumus vos Saxonicam rusticitatem abhorrere sed Greciscam nostram subtilitatem ad id studii magis vos provocare, quoniam si est qui suscitet illam apud nos invenietur Grecorum industriae aliqua scintilla’. Der Kaiser schliesst mit einem primitiven Gedicht:
Es spricht hieraus allerdings die Dankbarheit des
Schülers dem Lehrer gegenüber236; und aller Wahrscheinlichkeit nach het es also zwischen Gerbert und Otto eine gewisse Intimität gegeben. Eine ganz andere Frage aber, die Giesebrecht nicht scharf gestellt hat, ist diese: ist die persönliche Intimität zwischen den beiden Männern die Ursache der gemeinschaftlichen Politik gewesen, oder war eben diese Intimität nur die Begleiterscheinung eines weit tiefer gehenden politischen Phänomens? Ist es überhaupt denkbar, dass ein Mann wie Gerbert diese Initiative ergriffen hätte in einer Umgebung und einer Zeit, die seine Ideen, mit Ausnahme des Kaisers und einiger ihm ergebenen Phantasten, als blosse Hirngespinste ansehen musste?
In einem Ueberblick des Quellenmaterials haben wir darzulegen gesucht, wie sich die Individualität Gerberts zu den Zeitanschauungen verhält. Ganz durchdrungen von den augustinischen Denkformen seines Zeitalters, vielseitig gebildet, ohne grosse, bahnbrechende Theorien, ist er der Typus des klugen, geschickten Realpolitikers, der sich in den Reimser Konflikten stets zu behaupten weiss. Seine öffentliche Persönlichkeit (die Summe seiner öffentlichen Gedanken und Handlungen) macht auf uns keineswegs den Eindruck, dass wir es mit einem Idealisten zu tun haben. Dennoch ist es derselbe Mann, der in seinem Vorwort zum ‘Libellus de Rationali et Ratione uti’, einer philosophischen Schrift, die er Otto gewidmet hat, schreibt: ‘Nostrum, nostrum est Romanum imperium. Dant vìres ferax frugum Italia, ferax militum Gallia et Germania, nec Scithae desunt nobis fortissima regna. Noster es, Caesar, Romanorum imperator et auguste, qui summus Grecorum sanguine ortus, Grecos imperio superas, Romanis hereditario jure imperas, utrosque ingenio et eloquentia praevenis’237. Und anderswo, an Otto:
‘Ubi nescio quid divinum exprimitur, cum homo genere Grecus, imperio Romanus, quasi hereditario jure thesauros sibi Greciae ac Romanae repetit sapientiae’238.
Selbstverständlich kann man von dem Politiker Gerbert nicht erwarten, dass er sich hier plötzlich mit sinnloser Grosssprecherei befasst hat; auch an rhetorischen Schmuck ist nicht zu denken, weil ja die Angaben des ‘Libellus’ und der ep. 187 ziemlich genau präzisiert sind und untereinander auffallend übereinstimmen. Wie schon Lux richtig eingesehen hat239, handelt es sich hier um ein politisches Programm, abgefasst ‘ne se solam iactet Grecia in imperiali philosophia et Romana potentia’240. Wie es aber möglich wurde, dass ein solches Programm in der unmittelbaren Umgebung des Kaisers, gleichsam mit der Autorisierung des Kaisers selbst entstand, hat Lux nicht genügend erklären können, weil er die Politik Ottos nicht von seinen Phantastereien lösen wollte; er gibt sich mit der Bemerkung zufrieden, dass der Text ‘mit keinem Worte von der direkten Wiederherstellung des altrömischen Kaiserreiches spricht’241. Auch Lux hat die Vorstellung Giesebrechts, die Einleitung zum ‘Libellus’ sei nur das isolierte und schattenhafte Hirngespinst Gerberts, nicht revidiert, obwohl doch politische Luftschlösser mit dem Gesamtinhalt seiner Briefe schwerlich vereinbar sind.
In einem Brief, den Gerbert im Namen Ottos an Papst Gregor V. schrieb242, der also sicher ihren gemeinsamen Standpunkt vertritt, findet man ein zweites Element dieser Politik, das sich später während seines Pontifikates be-
merkbar machen wird. Otto deutet darauf hin, dass der Papst und er nicht nur ‘sanguine linea’, sondern auch ‘inter cunctos mortales quadam sui generis eminentia’ verbunden sind; deshalb, sagt er, ‘affectuum qualitate circa Domini cultum non dispares esse debemus’. Es ist hier keineswegs bloss eine diplomatische Höflichkeit gemeint, wie aus unseren allgemeinen Betrachtungen über ‘Staat’ und ‘Kirche’ schon hervorgeht; im Gegenteil, hier ist bereits die Grundlage des künftigen Zusammenarbeitens Ottos und Silvesters, die theoretische Grundlage des kaiserlich-päpstlichen Verhältnisses überhaupt, in wenigen Worten gegeben. Die augustinische Tradition des Regierungssystems würde man kaum knapper und prinzipieller formulieren können.
Bei Gerbert kommen also vereinigt vor das ‘Verwaltungsprogramm’: ‘affectuum qualitate circa Domini cultum non dispares asse debemus’ und das ‘Weltprogramm’: ‘Nostrum, nostrum est Romanum imperium’. Diese beiden Punkte müssen wir vorläufig festhalten. Bevor wir aber ihre Tendenz näher untersuchen, empfiehlt es sich zu erforschen, wieweit diese Gedanken sich auf Gerbert selbst beschränken, wieweit sie einem grösseren Kreise angehören. Die genannten Programmpunkte und die Titulatur ‘servus Jesu Christi et Romanorum imperator augustus etc.’ berühren sich ja in auffallender Weise; es liegt also auf der Hand, an einen allgemeineren geistigen Zusammenhang zu denken.
In dieser Beziehung sind an erster Stelle die Forschungen von Hermann Bloch über den Bischof Leo von Vercelli243 für uns wichtig. Dieser Bischof Leo hat, wie Bloch überzeugend beweisen konnte, unter Otto III. und Heinrich II. eine bedeutende Rolle gespielt. Bloch leitet das vornehmlich ab aus
handschriftlichen und stilistischen Kombinationen244. Schon Sickel hatte vermutet, dass DO III 323, 324, 383, 384 und 388 von Leo geschrieben waren. DO III 389, bekanntlich durch Wilmans und Ranke als unecht verurteilt, und die drei Capitularia Ottos, ‘De servis libertatem anhelantibus’, ‘De praediis ecclesiarum non alienandis’ und ‘De iustitio’245 zeigen damit eine gewisse Verwandtschaft. Bloch konnte nachweisen, dass diese Stücke ‘von demselben Manne herrühren; in ihnen verstreute Wendungen.... lassen mit Sicherheit erkennen, dass als ihr Verfasser Leo von Vercelli anzusehen ist’246. Weiter erinnert noch DO III 331 an seinen Stil; ausserdem schrieb Bloch, zweifellos mit Recht, zwei Gedichte, die ‘Versus de Gregorio papa et Ottone augusto’ und die ‘Versus de Ottone et Heinrico’247 demselben Leo von Vercelli zu.
Ueber sein Leben wissen wir einige Einzelheiten248. Zum ersten Male findet man Leo 996 in Mainz, wo er am Hof war; er wird dort ‘episcopus palacii’, genannt249. Vor dem Datum des Paveser Gesetzes, 20. Sept. 998, wurde er Bischof von Vercelli250; später kommt er vor als kaiserlicher Missus251, schliesslich 1001 als ‘logotheta’252.
Diese bedeutende Figur, die man vor den Untersuchungen
Blochs kaum dem Namen nach kannte, muss sich ungefähr im Frühling 997 mit Gerbert im Verbindung gesetzt haben253. Die Beziehungen der beiden Männer zum Kaiser laufen nahezu parallel. Die Urkunde für Vercelli von Mai 999254 erwähnt Silvester II. mit Heribert von Köln und Hugo von Tuscien als Fürbitter für Leo. Ottos Schenkung an die Kirche255, an der auch Silvester selbstverständlich beteiligt war, ist eigenhändig von Leo abgefasst worden256. Die ‘Versus de Gregorio papa et Ottone augusto’ erwähnen den Namen Gerbert. Man darf also vermuten, dass ihre politischen Ansichten sich gleichfalls manchmal berührt haben.
Auch Bloch meint, dass Leo ‘der Vertraute, um nicht zu sagen der Träger der kaiserlichen Politik gewesen zu sein scheint’257. Seines Erachtens ist auch der Titel ‘servus apostolorum’ Leo zu verdanken258; er versäumt aber, diesen Titel und seinen geistigen Inhalt aus der Weltanschauung des frühen Mittelalters herzuleiten und gerät so in eine psychologische Spekulation über den Unterschied zwischen Leo und dem Kaiser selbst, die er nicht weiter motiviert hat. Freilich beabsichtigten, nach Bloch, beide das Zusammenarbeiten von Kaiser und Papst; Otto aber wäre der Mystiker, schwankend zwischen seinen ‘cäsaristischen’ und ‘asketischen’ Idealen, Leo dagegen der überlegte politische Weltmann gewesen259. Trotzdem er gesteht: ‘die innige Verbindung der kaiserlichen und kirchlichen Herrschaft war sehr real’260,
trotzdem er den Zusammenhang zwischen den letzten Regierungsjahren Ottos III. und der Politik Heinrichs II. zugibt, verzichtet Bloch nicht auf den aus der Weltanschauung der Romantik herrührenden Gegensatz zwischen Welt und Askese, den wir oben in dieser Form als einen Anachronismus abgewiesen haben. Dadurch bleibt ein innerer Widerspruch; denn die eigentümliche ‘weltlich-geistliche’ Tendenz, die auch der Politik Leos anhaftet, und die wir jetzt mit dem Programm Gerberts zu vergleichen haben, ist unlöslich verbunden mit der ‘asketischen’ Tendenz in dem persönlichen Leben des Kaisers261. Ihre gemeinschaftliche Basis ist die begriffliche Untrennbarkeit von ‘Staat’ und ‘Kirche’ im mittelalterlichen Denken.
Gerbert und Leo von Vercelli kommen also gleichzeitig in der Umgebung Ottos vor, haben beide, wie sich aus den geschriebenen Resten ergibt, im Hofkreise gelebt. Welchen Inhalt haben diese geschriebenen Reste, die Bloch Leo zuschreibt und wie verhält sich dieser Inhalt zum Programm Gerberts?
Die bereits genannte Urkunde für das Bistum Vercelli262 fasst die politischen Absichten des Kaisers folgendermassen zusammen: ‘... ut libere et secure permanente Dei ecclesia prosperetur nostrum imperium, triumphet corona nostre militie, propagetur potentia populi Romani et restituatur res publica263, ut in huius mundi hospitio honeste vivere, de huius vite carcere honestius avolare et cum Domino honestissime mereamur regnare’. Bloch glaubte in dieser prinzipiellen Erörterung die eigentümlichen Gedanken der Politik
Ottos III. zu entdecken264. Wir können dieser Meinung nur teilweise beipflichten. Dass die Politik Ottos im Zeichen dieser Gedanken gestanden hat, ist nicht zu bezweifeln, ebensowenig, dass sie in ihrer Verwirklichung ihr höchstes Ziel gesehen hat. Es handelt sich hier aber um keine Ausnahmestellung persönlichster Art, sondern um eine Verschärfung der längst wirksamen Tendenzen. Die Vercelleser Urkunde spricht in erster Linie die allgemeine augustinische Auffassung von ‘Staat’ und ‘Kirche’ aus, und sogar in besonders klarer und unzweideutiger Weise. Wir haben hier nicht die irrealen Visionen einer einseitig religiös veranlagten Natur vor uns, die mit verworrenen Begriffen arbeitet; die Politik wird hier nicht plötzlich von weltfremden Elementen korrumpiert; es liegt vielmehr die rücksichtslose Durchsetzung der ottonischen Tradition vor. Wenn Bloch also ‘ut libere et secure permanente dei ecclesia prosperetur nostrum imperium’ übersetzt mit: ‘dass neben Gottes freier unvergänglicher Kirche (unser) Reiche erblühe’265, so ist das durchaus unrichtig. Wir wissen ja, dass das frühe Mittelalter die Begriffe Staat und Kirche nicht scheidet, dass die Ecclesia weltliche und geistliche Macht umfasst. Gemeint ist hier, ‘dass unser imperium (nicht “Reich”, sondern die weltliche Macht in der Ecclesia) erblühe unter der Bedingung, dass die Ecclesia Dei sich frei und unvergänglich behaupte’. Unter derselben Bedingung ‘triumphet corona nostre militie etc.’ Charakteristisch augustinisch ist auch der Schluss; der relative Wert der irdischen Güter (in huius mundi hospitio honeste vivere) wird im Lichte der Ewigkeitswerte als Stufe anerkannt, die Erde als Vorbereitung zum Himmelreich gesehen.
Scharf wird hier formuliert, was eigentlich die übliche Formel des Protokolles ‘Otto divina favente clementia im-
perator augustus’ unauffälliger schon aussagt. Der beiläufige Ausdruck ist bei Leo von Vercelli wichtigster Programmpunkt geworden.
Einen ähnlichen Fall findet man in der vielbesprochenen Schenkung der acht Grafschaften an den Papst266. In diesem Diplom tritt das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Macht, die Erbschaft der ‘Civitas Dei’, in durchaus merkwürdiger Form in den Vordergrund. Möglicherweise bildet die Schenkung den Schlussakt zu einem bereits unter Otto und Gregor V. enstandenen Konflikt über die ‘octo comitatus qui sub lite sunt’267. Ueber diesen Konflikt wissen wir aber weiter nichts; nur die Tatsache der wiederholten Schenkung derselben Grafschaften in zwei Diplomen konnte diese Vermutung stärken. Bloch leitet aus dem Inhalt von DO III 389 ab, dass es erst im Jahre 1001 gelang, ‘dank der persönlichen engen Verbindung zwischen Otto II. und Silvester, einen Ausgleich zu Stande zu bringen, durch den zwar der Gegenstand des Streites, jene acht Grafschaften, der römischen Kirche überlassen, dafür aber wenigstens der Rechtsstandpunkt des Reiches mit einer Schärfe und Entschiedenheit gewahrt wurde, die nur in den Zeiten des Investiturstreites ihres Gleichen gefunden hat’268. Auch hier trägt Bloch der weit allgemeineren Bedingtheit des kaiser-
lich-päpstlichen Zusammenarbeitens keine Rechnung. Denn, sei es, dass es einen Konflikt gegeben hat oder nicht269, der Inhalt der Urkunde hat damit wenig zu tun. Wir zitieren:
‘Romam caput mundi profitemur, Romanam ecclesiam matrem omnium ecclesiarum esse testamur, sed incuria et inscientia pontificum longe sue claritatis titulos obfuscasse. Nam non solum quae extra urbem esse videbantur, vendiderunt et quibusdam colluviis a lare Sancti Petri alienaverunt, sed quod absque dolore non dicimus, si quid in hac nostra urbe regia habuerunt, ut maiori licentia evagarentur, omnibus iudicante pecunia in commune dederunt et Sanctum Petrum, Sanctum Paulum, ipsa quoque altaria spoliaverunt, et pro reparatione confusionem induxerunt. Confusis vero papaticis legibus et iam abiecta ecclesia Romana in tantum quidam pontificum irruerunt, ut maximum partem imperii nostri apostolatui suo coniungerent, iam non querentes quae et quanta suis culpis perdiderunt, non curantes quanta ex voluntaria vanitate effuderunt, sed sua propria, utpote ab illis dilapidata dimittentes, quasi culpam suam in imperium nostrum retorquentes, ad aliena, id est ad nostra et nostri imperii maxime migraverunt. Hec sunt enim commenta ab illis ipsis inventa quibus Johannes diaconus cognomento Digitorum mutilus preceptum aureis litteris scripsit et sub titulo magni Constantini longi mendacii tempora finxit. Hec sunt etiam commenta quibus dicunt quendam Karolum sancto Petro nostra publica tribuisse. Sed ad hec respondemus, ipsum Karolum nichil dare iure potuisse, utpote iam a Karolo meliore fugatum,
iam imperio privatum, iam destitutum et adnullatum; ergo quod non habuit dedit, sic dedit sicut nimirum dare potuit, utpote qui male adquisivit et diu se possessurum non speravit. Spretis ergo commenticiis preceptis et imaginariis scriptis ex nostra liberalitate sancto Petro donamus que nostra sunt, non sibi que sua sunt, veluti nostra conferimus. Sicut enim pro amore sancti Petri domnum Siluestrum magistrum nostrum papam elegimus et Deo volente ipsum serenissimum ordinavimus et creavimus, ita pro amore ipsius domni Siluestri pape sancto Petro de publico nostro dona conferimus, ut habeat magister quid principi nostro Petro a parte sui discipuli offerat. Otto igitur comitatus pro amore magistri nostri domni Siluestri pape sancto Petro offerimus et donamus, ut ad honorem Dei et sancti Petri cum sua et nostra salute habeat teneat et ad incrementa sui apostolatus nostrique imperii ordinet’. Etc.
Wir wollen augenblicklich die ‘römische Frage’ und die Ablehnung der konstantinischen Schenkung beiseite lassen270. Es kommt erst darauf an zu untersuchen, ob und inwiefern hier nur ein persönlicher Konflikt im Spiel gewesen ist. Welchen Sinn haben die scharfen Aeusserungen des Kaisers gegen die Päpste, in einer Zeit, die sich eben einer engen Verbindung der kaiserlichen und päpstlichen Gewalten rühmen konnte? War es so, wie Bloch meint271, dass Otto sich hier mit
einem stolzen theoretischen Hinweis auf die Rechte des ‘Reiches’ zufriedengab und der schlaue Papst sich inzwischen der begehrten Sachen bemächtigte? Diese letzte Interpretierung beweist noch einmal, wie wenig man dem Verhältnis von Regnum und Sacerdotium mit modernen Begriffen gerecht wird. Es lässt sich schon leicht einsehen, dass der Verfasser des betreffenden Diploms von diesen Begriffen gar nichts weiss. Die ganze Peroration, welche die Einleitung bildet, ist, nicht nur dem Inhalt, sondern auch der Ausdrucksform nach, eine Anklage gegen die Korruption der Personen, welche den päpstlichen Stuhl innehatten. Sie ist eine Verteidigung des Pontifikates selbst. Das Pontifikat in abstracto erscheint dem mittelalterlichen Menschen konkret und anschaulich in der Gestalt des heiligen Petrus272. Man beachte, wie der Verfasser sich bemüht die Freveltaten der Päpste als eine dem Pontifikate, d.h. dem heiligen Petrus, angetane Schmach, und ebenso die Schenkung Ottos als eine Schenkung an den Apostel darzustellen273. Gegenüber der ‘Romana ecclesia mater omnium ecclesiarum’ steht die ‘incuria et inscientia pontificum’, gegenüber dem Apostel Petrus stehen seine unwürdigen Stellvertreter. Es folgt dann eine ausführliche Aufzählung ihrer Sünden und schliesslich die logische Folgerung: ‘Sicut enim pro amore Sancti Petri domnum Siluestrum magistrum nostrum papam elegimus... ita pro amore ipsius domni Siluestri pape Sancto Petro de publico nostro dona conferimus...’
Der Gedankengang ist also sehr einfach. Indem Otto die
allumfassende Macht der Ecclesia anerkennt274 rügt er die Päpste, die dem Apostel Petrus untreu geworden sind. Er lehnt ihre falschen Ansprüche ab, schenkt aber aus freiem Willen dem ‘pro amore Sancti Petri’ gewählten Papst Silvester die acht Grafschaften. Aus eigener Machtvollkommenheit, der Machtvollkommenheit des Imperiums in der Ecclesia, erteilt der Kaiser dasjenige, was seinem Machtgebiete angehört, seinem Mitarbeiter, der Petrus auf Erden mit Würde repräsentiert; ‘ex nostra liberalitate sancto Petro donamus que nostra sunt’. Wir finden hier eine sehr eingehende Feststellung der Grenzen der beiden Gewalten die vorzüglich zur allgemeinen Reichspolitik der Ottonen stimmt. Nur wenn man von der anachronistischen, durch den Text widersprochenen Voraussetzung ausgeht, der Papst habe sich gänzlich mit dem Papsttum identifiziert, kann mann dazu gelangen, den Inhalt dieses Diploms als ein ‘Aufgeben von Rechten des Reiches’ zu betrachten. Die Schenkung ist ja ein neuer Beweis dafür, dass der politische Kreis um Otto III. sich rastlos bemühte, gerade diese Rechte zu beschützen, das Imperium unverkürzt in seiner Stellung in der Ecclesia zu behaupten. Ob also wirklich ein Konflikt zwischen Kaiser und Papst bestanden hat oder nicht, macht keinen Unterschied; die Urkunde wäre auch ohne einen Konflikt durchaus normal. Sie ist eine persönliche Schenkung, wie auch DO III 228 eine persönliche Schenkung ist. (‘habeat magister quid principi nostro Petro a parte sui discipuli offerat’); sie macht erst recht begreiflich, welches
Prinzip Gregor V. und Silvester II. geführt hat. Sie konnten die aufrichtigen Mitarbeiter Ottos sein, weil seine Politik nicht den heiligen Petrus, sondern nur streitige Befugnisse traf; sie dürften seine Politik energisch unterstützen, sogar gegen ihre Vorgänger, weil sie davon nur Vorteil für die Ecclesia erwarten konnten, um deren Interessen diese Vorgänger sich nicht gekümmert hatten.
Die Urkunden Leos von Vercelli weisen also erstens in dieser Beziehung ein konsequentes Verfahren auf, dass sie weder eine ‘Reichs’politik noch eine ‘kirchliche’ Politik, sondern eine ausgesprochen ‘ecclesiastische’ Politik vertreten. Nur unter der Bedingung, dass die Ecclesia Dei sich behaupte, kann das Imperium erblühen (DO III 324); die Ecclesia kann sich aber nur dann behaupten, wenn dem Imperium die ihm gebührenden Rechte gewährt werden, d.h. wenn das Imperium über die irdischen Güter verfügen kann. (DO III 389). Diese ‘ecclesiastische’ Politik lehnt die weltlichen Ansprüche der früheren Päpste auf Grund der konstantinischen Schenkung entschieden ab, weil sie darin einen Eingriff in die Rechte der ‘weltlichen’ Macht erblickt, welche die Harmonie zwischen den Gewalten zerstört. Sie ist demnach eine Politik auf der Basis der augustinischen Gesellschaftslehre, die, im Gegensatz zu der gleichfalls ‘augustinischen’ Politik Gregors VII., die Rechte des Imperiums mit Genehmigung des Papstes kräftig betont.
Diese Auffassung wird noch bestätigt durch die zwei Gedichte, die man Leo von Vercelli aus guten Gründen zuschreibt, die ‘Versus de Gregorio papa et Ottone augusto’ und die ‘Versus de Ottone et Heinrico’275. Das erste Gedicht ist wohl ungefähr April 998, das zweite am Ende des Jahres 1002 entstanden. Schon Dümmler vermutete, dass ein und derselbe Autor sie geschrieben hätte; Bloch
hat diese Annahme präzisiert und Stil und Gedankenform mit der bekannten urkundlichen Produktion Leos in Verbindung gebracht. Auch hier aber, wo er noch einmal den Gedankenkreis des Vercelleser Bischofs betrachtet, verwendet er die Begriffe ‘weltlich’ und ‘geistlich’ (und infolgedessen ihre ‘Verbindung’) ohne weitere inhaltliche Kritik, so dass der Zusammenhang mit den Zeitanschauungen vernachlässigt wird und die politischen Auffassungen Leos einseitig als ein auf eine enge Gruppe beschränktes Ideal erscheinen. Das Gedicht an Gregor fängt folgendermassen an:
Schon gleich offenbart sich die innige Verbindung zwischen dem ‘weltlichen’ und ‘geistlichen’ Rom, die man auch in den Diplomen Leos vorfindet. Ebenfalls wird Petrus als leibliche Person eingeführt276:
Bereits wird ersichtlich, für welche Verbindung der Verfasser den heiligen Petrus herbeiführt; unvergleichlich klar aber schildert er den augustinischen Boden der mittelalterlichen Verwaltung in den Versen 13 bis 18:
Und 28 bis 33:
Nirgends wurde die Politik Ottos III. in ihrer ‘ecclesiastischen’ Tendenz und in der besonderen Gestaltung dieser Tendenz durch Leo von Vercelli unzweideutiger zusammengefasst. Kaiser und Papst sollen die Welt in Eintracht regieren; sie haben beide den bestimmten Kreis ihrer Befugnisse, in dem sie auf Erden tätig sind, um den Gottesstaat zu verwirklichen. Das ist die allgemeine Grundlage nicht nur der ottonischen, sondern der ganzen frühmittelalterlichen Politik279, die jetzt bei Leo in folgender Form
erscheint. Der Papst ist als Verwalter der Sakramente, als Vertreter des heiligen Petrus, durchweg der Erstgenannte; er wird durch den Dichter fortwährend mit ‘tu’ angeredet. Die Stellung des Papstes wird auch hier, seiner ‘geistlichen’ Bedeutung nach, anerkannt, wie schon Gelasius in seinem Brief an Kaiser Anastasius es gefordert hatte280. Nachdrücklich aber wird die ‘weltliche’ Macht dem Kaiser vorbehalten; die kaiserliche Macht wird besonders akzentuiert in dem Verse ‘sub caesaris potentia purgat papa secula’. Sogar tritt hier der Kaiser plötzlich in den Vordergrund; wir spüren hier eine der Zeit Heinrichs IV. und Gregors VII. entgegengesetzte politische Lage. Von der Umbildung der augustinischen Grundgedanken in spezifisch hierarchischem Sinne durch den Papst ist hier noch nicht die Rede; weil der Papst auch in der Welt des Zeitlichen tätig ist, hat er sich in ‘weltlichen’ Angelegenheiten dem Kaiser zu fügen. Von dieser besonderen Betonung abgesehen, ist also der Inhalt des Gedichts rein augustinisch; namentlich die Strophe ‘vos duo luminaria... illustrate ecclesias’ lässt keinen Zweifel mehr übrig, wie man sich das beabsichtigte Verhältnis von Regnum und Sacerdotium zu denken hat.
Die ‘Versus de Ottone et Heinrico’, mit denen wir uns in einem anderen Zusammenhang noch zu beschäftigen haben281, sind in dieser Hinsicht weniger charakteristisch. Sie besingen Otto nach seinem Tode; seine Stellungnahme zum Papsttum kommt nicht zur Sprache. Immerhin ist der Anfang wieder auffallend:
Die Ubersetzung von ‘ecclesia’ mit ‘Kirche’ wäre auch hier gänzlich verfehlt. Die ecclesia umfasst, wie sich aus der Strophe ergibt, das imperium, sie ist notwendige Vorbedingung zur Ausübung des imperiums überhaupt. In beiden Gedichten also wird der Begriff ‘ecclesia’ ausdrücklich in der augustinischen Bedeutung gebraucht, ihre Verwaltung durch Kaiser und Papst gemeinsam als selbstverständlich vorausgesetzt; und nur, wenn man moderne Abstraktionen, wie ‘Staat’ und ‘Kirche’ den realen Verhältnissen substituiert, kann man bereits in dieser Zeit auf eine prinzipielle Verschiedenheit der Richtlinien bei den zwei Mächten schliessen.
Der Einwurf, die Gedichte Leos von Vercelli seien blosse Schwärmerei, Idealisierung ohne realen Anhalt, muss abgewiesen werden. Ihr Inhalt stimmt ja erstens genau zu den von Leo abgefassten Diplomen; poetische figürliche Sprache kann hier also nicht im Spiel sein. Die dichterische sowie die staatsmännische Tätigkeit Leos erweist sich als das Produkt einer und derselben religiös-politischen Weltanschauung. Zweitens aber beschränkt sich diese Weltanschauung nicht auf Leo von Vercelli. Wir können jetzt feststellen, dass der Programmpunkt Gerberts ‘affectuum qualitate circa Domini cultum non dispares esse debemus’, der sein späteres Verhalten als Papst Silvester II. beherrscht hat, genau dasselbe ist, wie das Programm des Logotheten; beide fussen auf den augustinischen Gedanken von dem Staat Gottes, beide betrachten die Einheit von Regnum und Sacerdotium als die letzte Denkbarkeit, die ‘weltliche’ Oberherrschaft das Kaisers als eine Notwendigkeit. Und diese gemeinschaftliche politische Ueberzeugung ist wieder konform der oben untersuchten Formel des Protokolles: ‘Otto tercius servus Jesu Christi et Romanorum imperator augustus secundum voluntatem dei salvatoris nostrique liberatoris’. Die Urkunden, die Briefe
Gerberts und die Diplome und Gedichte Leos von Vercelli enthalten also das Fundament der Politik des Kreises um Otto III., einer Politik, die man möglichst streng genommen eine konsequent-augustinische nennen darf.
Wir sind berechtigt, von einem Kreis zu sprechen, weil eben die genauere Differenzierung der Personen um Otto III. (Gerbert, Leo von Vercelli) lehrt, dass ihre Politik auf ein bestimmtes Prinzip gegenüber den Problemen der Verwaltung zurückzuführen ist. Auch in wirtschaftlichen Angelegenheiten offenbart sich diese gemeinschaftliche Tendenz. Das Paveser Gesetz vom 20. Sept. 998282, an dem Gerbert und Leo beteiligt gewesen sind283, zeugt für einen zielbewussten und, wie Hartmann schon gesagt hat, in dieser Zeit fast einzigartigen Versuch, durch eine allgemeine Massregel soziale Verhältnisse zu ordnen. Hartmann sieht in diesem Gesetz, das eine Zentralisation der Lehnsgüter durch Beschränkung der Erblichkeit beabsichtigte, wohl mit Recht ‘den konsequenten Abschluss der ottonischen Wirtschaftspolitik’284. Wir fügen hinzu, dass es gerade deshalb vorzüglich passt zu der allgemeinen Verwaltungspolitik Ottos III., die Hartmann als eine Phantasterei abgelehnt hat, die aber, wie wir zu beweisen suchten, gleichfalls einen konsequenten Abschluss bedeutet; ein Abschluss der ottonischen Reichspolitik, dessen Nachwirkung sich in der Zeit Konrads II. noch bemerkbar macht285.
Ueber die Wechselwirkung der Persönlichkeiten in diesem Kreise bleibt man im Ungewissen. Die schriftlichen Reste reichen nicht aus, weil eine einheitliche Biographie Ottos III., die sich mit dem Gegenstand hätte beschäftigen können, nicht überliefert wurde. Die Sonderbiographien konzentrieren sich ja nicht auf den Kaiser als Mittelpunkt; sie gehen von dem beschriebenen Heiligen aus, widmen nur beiläufig den Nebenfiguren ihr Interesse. Von Gerbert von Aurillac und Leo von Vercelli hat die moderne Wissenschaft wenigstens die rohe Form ihrer öffentlichen Persönlichkeit feststellen können. Andere Personen, die uns häufig in der Umgebung Ottos begegnen und dort zweifellos eine Rolle gespielt haben, bleiben dagegen Namen ohne Anschauung. Der Erzkanzler Heribert von Köln z.B. wird durch seinen Biographen Lantbert ausführlich geschildert286, nur nicht in seinen politischen Handlungen! ‘Quotiens cum imperatore Romam ierit et redierit, utque augustus arcem imperii, res Italiae moderando, disposuerit, potius regiae videtur inscribendum chronicae quam in laudem sancti violenter inflectere’287. Mit diesen Worten entschuldigt sich der Autor für die fehlende Würdigung der politischen Qualitäten Heriberts, die wir freilich durch die Urkunden einigermassen kennen lernen, ohne jedoch daraus mehr als eine unbestimmte Figur mit verschwommenen Umrissen gewinnen zu können. Zweifellos aber gehörte er dem ottonischen Kreise an, wie sich schon ergibt aus seinen Titeln ‘archilogotheta’288 und ‘logotheta principalis’289.
Ebensowenig lässt sich über die Persönlichkeit des Mark-
grafen Hugo von Tuscien290 und ihren Anteil an der Politik Ottos endgültig Aufschluss geben. Dass er zu den intimen Freunden des Kaisers gerechnet werden muss, beweist seine wichtige Stellung in den Urkunden; nach 996 befindet er sich stets in Ottos Umgebung; er war offenbar sein vertrauter Berater291. Man darf vermuten, dass er die ‘ecclesiastische’ Politik Gerberts (Silvesters) und Leos genau gekannt hat; man findet ihn wenigstens in engster Verbindung mit beiden Männern292.
Inwiefern der Erzieher Ottos, der Bischof Bernward von Hildesheim, mit dieser Politik einverstanden gewesen ist, muss wieder dahingestellt bleiben. Dass Otto und Silvester in seinem Konflikt mit Willigis von Mainz sich völlig für ihn entschieden,293 kann nur zeigen, dass er äusserlich immer nachgegeben hat. Sein Biograph Thankmar294 deutet aber an, dass er Beschwerden gehegt haben muss295, die übrigens aus seinem persönlichen Verhalten als Lehrer zum Schüler schon herzuleiten sind296. Immerhin ist es wahrscheinlich,
dass Bernward im eigentlichen Sinne zu den Vertrauten des Kaisers gehört hat297.
Im allgemeinen kann man behaupten, dass der leitende Gedanke des Regierungssystems Ottos III. durch die oben angeführten Aeusserungen Gerberts und Leos von Vercelli am besten wiedergegeben wird, dass aber der Anteil der verschiedenen Persönlichkeiten schwerlich abzugrenzen ist. Nur dies lässt sich jetzt bedingungslos feststellen: die Grundlage der Politik, die wir als ‘ecclesiastisch’ bezeichnet haben, gehört weder der Person noch der kurzen Periode Ottos III. ausschliesslich an, ist also sicherlich nicht als der Traum eines Phantasten zu betrachten, sondern als der energische Versuch einer bestimmten Gruppe, die vorliegenden Ideen spezifisch umzubilden, die damaligen Verhältnisse in der Ecclesia Dei auf Erden auszunutzen, die Ansprüche des Imperiums im Staat Gottes nachdrücklich geltend zu machen und so die göttliche Mission der ‘weltlichen’ Macht auf ihrem Gebiete neben der des Papsttums hervorzuheben.
Man kann nicht leugnen, dass die Situation sehr günstig war. Das Papsttum war durch den Kaiser aus seinem Verfall emporgehoben worden; Männer wie Gerbert von Äurillac und Leo von Vercelli, gänzlich durchdrungen von der augustinischen Staatsidee, hatten sich der Verteidigung dieser ‘imperialistisch’-augustinischen Politik gewidmet. Der Kreis um Otto III. vertrat also ein Ideal, dessen Vorgeschichte unmittelbar aus der Vergangenheit des sächsischen Hauses und der Kurie abzuleiten war; es drückte die Ueberlegenkeit
des Imperiums in den letzten Jahrzehnten aus, ohne der ideellen Autorität des Papsttums Abbruch zu tun. Es fragt sich jetzt, wie diese ‘imperialistisch’-augustinische Gruppe, die in Rom ihr Zentrum hatte, in der Welt ihr Ideal realisieren wollte, welche politischen Mittel ihr dabei zur Verfügung standen und wie sie diese politischen Mittel in der Praxis verwendet hat. Wir müssen dann zunächst wieder zurückgreifen auf das Programm Gerberts, und jetzt besonders auf den Passus: ‘Nostrum, nostrum est Romanum imperium’.
Wir haben oben S. 82 schon bemerkt, dass hier von einer leeren Phantasterei nicht die Rede sein kann. Dagegen spricht nicht nur alles, was wir über die öffentliche Persönlichkeit Gerberts aus seinen Schriften wissen, sondern am meisten der Umstand, dass eine solche sinnlose Aeusserung eines prominenten Staatsmannes im vorliegenden Fall direkt lächerlich und sogar gefährlich gewesen wäre, wenn sie sich nicht auf Tatsachen hätte stützen können. Wie gefährlich die Lage in dem Jahre 997 war, als dieses Programm verfasst wurde, hat neuerdings Schramm in einigen Schriften eingehend ausgeführt298. Wir müssen aber vorher die Tendenz der Ottonenpolitik kurz überblicken, damit die Situation während der Regierung Ottos III. nicht wie eine isolierte Periode erscheine299.
Die ‘grosse’ Politik der Ottonen, die mit Otto I. anfängt, ist, was Italien und Byzanz betrifft, in vieler Hinsicht
eine Fortsetzung der Politik Karls des Grossen. Das ist verkannt worden, weil in der Wahl der praktischen Mittel selbstverständlich ein beträchtlicher Unterschied aufzuweisen ist300. Dennoch, wenn man die Richtlinien der Diplomatie des sächsischen Hauses ermitteln will, hat man häufig in der Zeit Karls des Grossen den geistigen Boden dieser Diplomatie zu suchen. Mit der Kaiserkrönung im Jahre 800 wird ja das merkwürdige Dilemma geschaffen, dessen Bedeutung, scheinbar nur theoretischer Art, für die Mittelmeerpolitik der kommenden Jahrhunderte entscheidend gewesen ist: in dem Staat Gottes gab es jetzt zwei gleichberechtigte Mächte, das fränkische und das byzantinische Imperium, während Augustin nur eine ‘weltliche’ Macht neben dem Sacerdotium kannte, da das alte römische Reich Orient und Okzident wirklich unter einem Kaiser vereinigt gesehen hatte. Allerdings hatte Karl gerade die Absicht, die Einheit des römischen Reiches wiederherzustellen; die Kaiserkrönung bezweckte ja nichts mehr oder weniger, als die Erhebung des fränkischen Königtums zum imperium romanum, d.h. die Beseitigung des byzantinischen Kaisertums301. Nach der Vorstellung der Zeitgenossen war das Imperium von den Griechen auf die Franken übertragen worden, weil die Regierung in Byzanz als unfähig, sogar als ketzerisch betrachtet wurde. Ihr gegenüber proklamierte sich Karl als der imperator felix, als der einzige ‘weltliche’ Vertreter der Civitas Dei, wie sich aus seinem Titel ‘pacifiais’ deutlich ergibt; zugleich erkannte er den Glaubensprimat des Papstes in unumschränkter Form an; er stellte sich also gänzlich auf den Boden der augustinischen Ge-
dankenwelt302. Bekanntlich war die Kaiserkrönung nicht der einzige Versuch, zu einer Union mit Byzanz zu gelangen; alle diese Versuche scheiterten aber und das Dilemma blieb.
Wir sehen hier zum ersten Male diese merkwürdige Hartnäckigkeit in der Geschichte des okzidentalen Kaisertums, die man vielfach als ‘phantastisch’ qualifiziert hat, die aber von Bernheim in ihrer tiefgehenden Bedeutung richtig gewürdigt worden ist. Denn diese Hartnäckigkeit wiederholt sich bei den Nachfolgern Karls. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht der von Bernheim303 zitierte Brief Kaiser Ludwigs II. an den byzantinischen Kaiser Basilios. Ludwig schreibt dort: ‘Unum est enim imperium Patris et Filii et Spiritus Sancti, cuius pars est ecclesia constituta in terris, quam tamen Deus nec per te solum nec per me tantum gubernari disposuit, nisi quia sumus tanta ad invicem caritate connexi, ut non iam divisi sed unum existere videamur’304. Hier wird der Einheitstrieb motiviert als eine Notwendigkeit, obgleich er, wie man weiss, im Widerstreit steht mit den andauernden Reibungen zwischen Ost und West, im Widerstreit auch mit der Haltung der Byzantiner, die gewöhnlich von dieser Einheit nichts wissen wollten. Wie sich aus dem Brief ergibt, findet man die Lösung, wo man sie suchen soll: in der begrifflichen Form der frühmittelalterlichen Staatsidee, die als Denknotwendigkeit die ideelle Einheit des Imperiums in sich trug. Dass sich damit unausgesetzt Spekulationen rein praktischen Gehalts verbanden, dass diese ideelle Einheit überhaupt Denkgrenze, nicht Denk-
problem war, brauchen wir nach unserer Ausführung im vorhergehenden Kapitel wohl nicht mehr zu motivieren. ‘Ideell’ nennen wir das Einheitsprinzip, weil es nie schlechthin aus materiellen Gründen erklärt werden kann, weil es nicht als Produkt, sondern nur als begriffliche Form der Mittelmeerpolitik der Ottonen angesehen werden soll.
Sobald die deutschen Kaiser ihre Aufmerksamkeit wieder den Weltproblemen widmen konnten, nahmen sie die politischen Beziehungen zu Byzanz von neuem auf. Eine Tatsache, die um so mehr Beachtung verdient, weil manchmal einer Annäherung von Seiten der Byzantiner nicht das geringste Wohlwollen entgegengebracht wurde. Trotzdem kommen, neben kriegerischen Auseinandersetzungen, immer wieder Versuche vor, die Kluft zwischen Ost und West zu überbrücken, die alte Tradition des ungeteilten Kaisertums aufrechtzuerhalten. Freilich handelte es sich hier auch um ein lebhaftes Interesse für die Grenzgebiete in Süditalien305; aber nur aus den wechselnden territorialen Verhältnissen lässt sich die Hartnäckigkeit, von der wir oben schon gesprochen haben, nicht erklären. Es blieb ja nicht bei einer Konkurrenzpolitik, die wegen der strittigen Gebiete schon verständlich gewesen wäre, sondern daneben suchte die Diplomatie der Ottonen unleugbar eine prinzipielle Gleichstellung mit Byzanz, sei es in der Form einer Aussöhnung durch Eheverbindungen, sei es durch eine militärische Entkräftung der byzantinischen Herrschaft. Der scheinbare Widerspruch zwischen friedlichem Heiratsantrag und gewaltsamer Eroberung ist nur verständlich, wenn man vor Augen hat, dass sich beide Aeusserungen auf die politische Notwendigkeit der Gleichstellung beziehen, eine Notwendigkeit also, die sich überall mit praktischen Problemen verbunden hat, aber nicht restlos aus diesen Problemen erklärt
werden kann. Es ist das augustinische Weltbild, das sich niemals mit der Anwesenheit zweier weltlicher Gewalten vertragen konnte, obschon es sich damit in der Praxis zu wiederholten Malen abfinden musste, und das durch seine Forderung einer ideellen Einheit die Mittelmeerverhältnisse im zehnten und elften Jahrhundert häufig wesentlich mitbestimmt hat306.
Es ist allgemein bekannt, das Otto I. für seinen Sohn und künftigen Nachfolger energisch um eine Tochter des Kaisers Romanos II. werben liess307. Otto selbst hat auch die zwei Möglichkeiten: Verständigung oder Gewalt, 968 ausgesprochen308; und nachdem die Gesandtschaft Liutprands von Cremona, aus dessen ‘Legatio’309 wir den Bescheid der Byzantiner: ‘Vos non Romani, sed Longobardi estis’ kennen310, nur einen zweifelhaften Erfolg erreicht hatte, versuchte Otto tatsächlich eine Lösung durch die Eroberung Apuliens, freilich ohne Resultat. Schliesslich wurde der Konflikt nach der Ermordung des Nikephoros Phokas wieder vorläufig durch die Ehe Ottos II. mit Theophano beigelegt.
Dass es Otto I. weder um die Ehe, noch um die Eroberung Apuliens ausschliesslich zu tun war, ergibt sich bereits aus dem eigentümlich schnellen Wechsel von Verhandlung und Krieg. Otto fühlte sich als der Nachfolger Ludwigs II.311, dessen Auffassung über die Frage der zwei weltlichen
Mächte aus seinem oben S. 128 zitierten Brief hervorgeht. Ottos Pläne umfassten sicherlich mehr, als eine Allianz zwischen seinem Sohn und einer byzantinischen Prinzessin, mehr als eine Erweiterung seiner Grenzen; er hat sie nur nicht zur Ausführung bringen können.
Unter Otto II. dauert diese Politik im Zeichen der Konkurrenz und des Kampfes um Gleichstellung fort312; sie wurde jetzt sehr verschärft durch den Ende 981 ausgebrochenen Krieg. Im Zusammenhang damit führte die italienische Kanzlei den kaiserlichen Titel ‘imperator Romanorum’ ein313; sie beanspruchte damit das einzige wahre Imperium für den Kaiser des Okzidents, der über das alte Rom, obendrein die Stadt des heiligen Petrus, herrschte314. Die Einführung dieses Titels war eine erste theoretische Abgrenzung der Rechte der sächsischen Kaiser, die sich des Besitzes der wahren Kaiserstadt rühmen konnten. Der unzeitige Tod Ottos und das Auftreten der nach aussen lahmgelegten ‘Regentschaft’ brach aber auch dieses Stadium jäh ab; bis 994 fehlen dann wieder grosse Zusammenstösse.
Zu Anfang der selbständigen Regierungsperiode Ottos III. findet man demnach etwa folgendes Entwicklungsstadium. Die Frage der Weltherrschaft war unentschieden geblieben. In Byzanz setzte Basilios II eine erfolgreiche Politik fort, im Westen hatte sich die ‘Regentschaft’ behauptet,
ohne imstande gewesen zu sein, sich der Aussenpolitik hinlänglich zu widmen. Auch ist eine gewisse oberflächliche ‘Byzantinisierung’ des Westens in dieser Zeit unverkennbar. Nach Schramm kann man sogar ‘von einem byzantinischen Zeitalter in Bezug auf die kulturelle Vormachtstellung’ sprechen315. Immerhin soll man diesen kulturellen Einfluss nicht überschätzen, so wie man ihn früher unterschätzt hat316. Sicherlich ist es nicht bloss der persönlichen Anregung der Theophano zu verdanken, dass wir in Italien und in geringerem Umfang auch in Deutschland Spuren der byzantinischen Kultur konstatieren können; wie die Kunstproduktion317 und besonders die Porträtmalerei318 zeigen, war der Byzantinismus der Formen allgemein verbreitet. Trotzdem aber hat das Abendland inhaltlich sich nie mit Byzanz verstanden; welche Kluft besteht zwischen einem Gerbert und dem Gesandten Leo, dessen Rapporte wir unten behandeln319, erhellt aus der Lektüre ihrer Korrespondenzen. Die byzantinische Form stellte sich dort ein, wo ein eigenes unabhängiges Ausdrucksmittel noch nicht gewachsen war: in dem visuellen Genuss der Malerei, in dem Luxus der Lebensausstattung. Der einschneidende
Gegensatz von Gott und Teufel, von Friedenskaiser und Antichrist, mit dem die Literatur des Westens getränkt ist, wurde aber von dieser Byzantinisierung inhaltlich kaum berührt. Die Frivolität der Briefe des byzantinischen Staatsmannes ist den Schriften der geistlichen Politiker des Abendlandes, wie Thietmar, wie Gerbert, wie Leo von Vercelli, völlig fremd. Eine äusserliche Gewandtheit des Stiles mag in der Einleitung zum ‘Libellus de Rationali et Ratione uti’, teilweise auch in den Gedichten Leos von Vercelli geschickt übernommen worden sein: sie wirkt nichtsdestoweniger wie rhetorischer Zusatz; den eigentlichen Kern des ‘romanischen’ Denkens bildet ein schwerblütiger Pessimismus bezüglich des Wertes der irdischen Güter, ein gehobener Optimismus bezüglich der himmlischen Zukunft und ihrer Vorerscheinungen auf Erden; eine skeptische Zwischenstufe gibt es nicht.
Bekanntlich war Otto, als er einmal mündig geworden war, den byzantinischen Kulturformen, wie er sie schon frühzeitig bei seiner Mutter Theophano beobachtet haben kann, durchaus nicht abgeneigt; und sogar als entscheidend für seine geistige Entwicklung darf man den schon oft angeführten Brief ansehen, in dem er Gerbert um eine Vermehrung seiner ‘Grecisca subtilitas’ bittet320. Zugleich aber haben die Verhältnisse auch ihn genötigt, die Ottonenpolitik fortzusetzen, die ‘augustinische’ Autorität des okzidentalen Kaisertums zu bewähren, die Position des sächsischen Kaisers als die bevorzugte, die ideelle Einheit des Imperiums als eine Notwendigkeit zu prätendieren. Das Dilemma spitzt sich zu; der Kaiser und sein Kreis sehen einerseits ein, dass in der betreffenden politischen und kulturellen Lage die ‘grecisca subtilitas’ für die Bildung des Westens unentbehrlich ist, werden aber andererseits durch die nämliche politische
und kulturelle Lage dazu gezwungen, Byzanz gegenüber eine spezifisch ‘okzidentale’ Politik zu führen. Wir haben jetzt zu untersuchen, wie der Kreis um Otto III. sich mit diesem Dilemma abgefunden hat, müssen dabei aber fortwährend in Erwägung ziehen, dass die Byzantinisierung des Westens zwar sehr verbreitet gewesen ist, nie aber den Inhalt des westlichen Denkens mehr als formal umgemodelt hat. Die byzantinische Kultur hat hier nicht, wie Waitz zu glauben geneigt war, einen eigenen germanischen Kulturbesitz bedroht, sondern nur die kulturelle Manifestation des zehnten und elften Jahrhunderts formal ermöglicht. Dieses Verhältnis von Ost und West zeigt sich auch in der Politik Ottos III.
Das erste Symptom einer neuen zielbewussten Byzanzpolitik ist bereits 994 festzulegen, als Otto also noch ein vierzehnjähriger Knabe war. Wie schon bemerkt wurde, ist von Verhandlungen während der ‘Regentschaft’ weiter nichts überliefert worden; solche Verhandlungen sind sogar als unwahrscheinlich zu betrachten. Aus einem Brief von Hugo Capet an die Kaiser Basilios und Konstantin321 ergibt sich nämlich, dass an eine positive Diplomatie der Theophano in Bezug auf ihre frühere Heimat nicht gedacht werden kann. Hugo macht dort den Kaisern den Vorschlag, ein Bündnis und eine Eheverbindung zwischen seinem Sohn Robert und einer byzantinischen Prinzessin zustande zu bringen, ein Versuch, der sich ohne Zweifel gegen die Autorität des deutschen Imperiums wendet und an sich schon ein Beweis dafür ist, dass Theophano in diesen Jahren dagegen wenig
unternehmen konnte. Obendrein schreibt Hugo folgenden unzweideutigen Satz: ‘Etenim nobis obstantibus nec Gallus, nec Germanus fines lacesset Romani imperii’322. Schmeichelhaft nennt er das Imperium der Griechen das ‘imperium Romanum’, im Gegensatz zum ‘Germanus’; er nimmt sichtlich die Partei des Basileus, der sich ja buchstäblich genommen nicht länger aus sachlichen Gründen βασιλεὺς Ῥωμαιῶν nennen konnte, durch diese kleine, politisch aber nicht unwichtige Höflichkeit. Der Brief zeigt erstens, dass auch in dem ‘Frankreich’ der Capets das Interesse für die Mittelmeerfrage rege war und dass die Entwicklung der Nationalstaaten dadurch sogar beeinflusst wurde; zweitens, dass Hugo einen solchen Vorschlag in den betreffenden Umständen offenbar wagen konnte, ohne die Konkurrenz des deutschen Imperiums in dieser Hinsicht befürchten zu brauchen.
Die alte Ottonenpolitik aber mag durch einen zeitweiligen Blutmangel in der ‘Regentschafts’periode wenig in den Vordergrund getreten sein: dass ihr leitender Gedanke nichts weniger als tot war, ergibt sich aus den Ereignissen von 994323. Noch vor der formellen Selbständigkeit Ottos tagte im Herbst dieses Jahres eine Reichsversammlung, auf der man von neuem ein byzantinisches Heiratsprojekt, diesmal für den künftigen Imperator Otto III., plante; wenigstens wurde bald darauf wieder eine Gesandtschaft ausgesandt, geführt von Johannes Philagathos, dem Griechen aus Rossano, der schon unter Otto II. und Theophano eine Rolle gespielt hat324, und von dem Bischof Bernward von Würzburg, der aber
unterwegs starb. Es ist ein Verdienst Schramms, darauf hingewiesen zu haben, dass dieser erneute Versuch, mit Byzanz Verbindung zu suchen, ein Wiederaufnehmen der üblichen ottonischen Politik bedeutet, das, wie das Datum ausweist, unmöglich von Otto selbst herrühren kann, sondern auf Adelheid und die Reichsgrossen zurückzuführen ist325; die Möglichkeit, dass auch jetzt dabei sehr konkrete Nebengedanken mitspielten, ist sogar keineswegs ausgeschlossen, weil weder Basilios noch Konstantin einen Sohn besassen und die Union der beiden Weltreiche durch die geplante Verbindung dem Ziele beträchtlich näher gerückt schien. Die Perspektive dieses Heiratsprojektes ist also nicht phantastischer326 und noch weniger persönlicher Art; man brauchte allgemein für das Gedeihen des Imperiums den Glanz der Einheit der Mittelmeermächte und man versäumte nicht, jede Ge-
legenheit, die sich darbot, zu ergreifen und auszunutzen.
Wir wissen über den Aufenthalt des Philagathos in Byzanz nur dies, dass er keinen direkten Erfolg erzielt hat. Immerhin schickte Basilios eine Gegengesandtschaft unter einem gewissen Leo, der mit Philagathos die Reise nach Italien antrat. Aus den neun Briefen, die uns von seiner Hand erhalten sind327, und die seine Eindrücke über die Entwicklung seiner Mission wiedergeben, erhellt möglichst deutlich, wie tief der Unterschied war, der zwischen den Kulturstufen des byzantinischen und des deutschen Reiches um die Wende des zehnten und elften Jahrhunderts bestand. Es lässt sich das eben deshalb so genau feststellen, weil in der Briefsammlung Gerberts von Aurillac eine inhaltlich ähnliche Quelle vorliegt. Von dem eigentümlichen antithetischen Denken des Westens, wie es sich, wie wir gesehen haben, in der Korrespondenz Gerberts ebensogut wie in der Chronik Thietmars offenbart, ist in den Rapporten Leos keine Spur zu entdecken. Sein Gedankengang ist beherrscht von einer rücksichtslosen, völlig areligiösen Skepsis: ihn kennzeichnet ein politischer ‘Rationalismus’, der dem heutigen Denken begrifflich viel näher steht als dem abendländischen des frühen Mittelalters. Die Briefe Leos sind demnach äusserst wertvoll als Kontrolle des übrigen Quellenmaterials; sie entstammen ja einer anderen Kultursphäre, sie beschäftigen sich aber mit Ereignissen des Westens. So ist die Charakteristik von Johannes Philagathos hier gänzlich ‘realistisch’ im heutigen Sinne; der Gegenpapst wird nicht als ‘membrum Sathani’, sondern als ein moralisch gleichgültiger Faktor analysiert; Leo selbst ist durchaus davon überzeugt, dass er seinen Reisegefährten unrechtmässig als Mittel zum Zweck missbraucht328: ein
Selbstbekenntnis, dass man vergeblich in den Briefen Gerberts suchen wird! Man ersieht aus dieser Korrespondenz nicht nur, wie verschieden die Interessen der beiden Grossmächte, sondern auch, wie verschieden ihre Begriffsbildungen waren. Der grosszügigen, bis ins Unverständliche zähen Politik der Ottonen gegenüber erscheint die Taktik eines Basilios II. als eine der kleinen, klugen und vorsichtigen Praxis und der Selbstbehauptung.
Das Schicksal des Philagathos nach seiner Rückkehr aus Byzanz darf man gewissermassen als ein symbolisches Ergebnis der Politik Ottos III. betrachten: denn obgleich die griechische Bildung des Kaisers teilweise von ihm herrührte, wurde ihm sein Auftreten gegen die Interessen des westlichen Imperiums trotzdem verhängnisvoll. Während seines Aufenthaltes in Byzanz war nämlich Otto nach Italien gezogen und Gregor V. zum Papst erhoben worden329. Aus den Händen seines Verwandten hatte Otto am 21. Mai 996 die Kaiserkrone empfangen. Zweifellos ist die Erhebung eines deutschen Papstes, die eine beträchtliche Befestigung des westlichen Imperiums bedeutete, gleichfalls seiner Machtstellung in Italien, den Byzantinern sehr unangenehm gewesen330, was die Aussichten der in Byzanz weilenden Gesandtschaft nicht günstiger gestaltet haben wird. Die neue Empörung des römischen Patricus Crescentius während der Abwesenheit Gregors in Pavia331 brachte demnach für Leo, der im Januar 997 mit Philagathos in Rom angekommen war, eine schöne Gelegenheit, dem Kaiser des Westens Abbruch zu tun; er verständigte sich mit Crescentius, der unter dem Druck des Byzantiners Philagathos als Gegenpapst einsetzte332. Dass er diese wichtige Handlung sogar eigen-
mächtig wagte333, obwohl ihm obendrein die Persönlichkeit des Philagathos verhasst war334, beweist, wieviel ihm daran gelegen sein musste, die Herrschaft der Ottonen unter allen Umständen zu beeinträchtigen.
Man weiss, dass das politische Abenteuer von Crescentius und Philagathos, mit heimlicher Unterstützung Leos, sich bald als ein Fehlgriff erwiesen hat335. Schon im Juli 997 hatte die Empörung ihre Kraft verloren336; im Februar 998 traf Otto, nachdem er die Slaven besiegt hatte, in Rom ein und schlug sie endgültig nieder; Philagathos und Crescentius wurden durch Verstümmelung und Aufhängen aus dem Wege geschafft. Die Rücksichtslosigkeit des byzantinischen Gesandten, der sich während des von ihm entfesselten Kampfes so geschickt im Hintergrunde gehalten hatte, dass die Quellen an eine byzantinische Einmischung nicht einmal gedacht haben, tritt hier unverhüllt und zynisch hervor; in einem Brief verspottet er ohne jede Pietät den blinden Philagathos337, den er erst als den Strohmann seiner Politik poussiert hatte, und im Oktober 997 findet man ihn am kaiserlichen Hofe, wo er jetzt seine Mission durch Verzögerung der Heiratsverhandlungen zu erfüllen suchte338 Dass er auch hier das Gegenteil seiner Wünsche erreichte, geht aus den Ereignissen des Jahres 997 hervor.
Das Jahr 997339 hat für die Politik Ottos III. eine entschei-
dende Bedeutung. Erst in diesem Jahre bildet sich der Kreis um den jugendlichen Kaiser, dessen Gedanken hauptsächlich Gerbert und Leo von Vercelli vertreten. An verschiedenen Tatsachen lässt sich beobachten, dass unter dem Einfluss dieser politischen Konsolidierung die Taktik eine Aenderung erfährt. Im Frühjahr 997 erscheint Gerbert in der Umgebung Ottos340, in derselben Zeit ist dessen Bekanntschaft mit Leo bereits festzustellen341. Im Sommer 997 besiegt Otto durch ein energisches Einschreiten die Slaven so definitiv342, dass er Anfang November343 ruhig den italienischen Problemen seine Aufmerksamkeit zuwenden und in den nächsten Monaten die bereits in Juli 997 unrettbar verlorene Empörung von Crescentius und Philagathos dämpfen kann. Für das okzidentale Imperium und das mit ihm verbundene Papsttum ist das Jahr 997 eine Periode des Triumphes, die nicht nur die Stärke ihrer materiellen Hilfsmittel, sondern vor allem die moralische Ueberlegenheit der von der grossen Mehrzahl der Untertanen als legitim angesehenen Gewalten beweist. ‘Pax’ und ‘justitia’ waren im Reich wiedergekehrt, die perfiden Teufelskinder auf immer gestürzt und beseitigt.
In einer Siegesstimmung, die keineswegs unberechtigt war, konnten also Gerbert und Leo die ersten theoretischen Programmpunkte aufstellen, die wir oben S. 103 ff. schon in ihrem Verhältnis zu den inneren Angelegenheiten des Reichs behandelt haben. Wir haben dort gesehen, dass die Siegesstimmung, wie sie z.B. in dem Gedicht an Gregor unverkennbar hervortritt, stilistisch und inhaltlich dennoch gänzlich durch die Normen der augustinischen Anschauungen
bedingt wird; der glückliche Ablauf des Krieges bedeutet eine Wiederherstellung der ‘pax’, die ein intensives Zusammenarbeiten von Kaiser und Papst ermöglichen wird344. Jetzt fragt sich, wie diese Wiederherstellung der ‘pax’, die das Selbstbewusstsein der beiden Mächte so sehr gehoben hatte, auf die Beziehungen zu Byzanz eingewirkt hat; denn da die Spaltung des Imperiums sich unter keinen Umständen mit den Ideen des Okzidents vertragen konnte, die Praxis aber, die zur Beseitigung dieser Zweiheit führen sollte, ganz entschieden von den äusseren Umständen abhängig war, ist selbstverständlich die Befestigung der Grundlagen der ‘ecclesiastischen’ Politik Ottos III. in den Jahren 997 und 998 auch in der Form dieser Beziehungen fühlbar gewesen.
Die Bestätigung dieser Ansicht liefern erstens das ‘Welt’-programm Gerberts ‘Nostrum, nostrum est Romanum imperium’, zweitens die von Leo von Vercelli verfassten Diplome und Gedichte, drittens die oben schon angeführten Formeln der Urkunden. Offenbar vollzieht sich um das Ende des Jahres 997 die wichtige Aenderung in der Taktik des okzidentalen Imperiums, die aus den grossen Erfolgen des kaiserlichen Heeres an der Ostgrenze und in Italien abzuleiten ist und die in den genannten schriftlichen Ueberresten formuliert wird. Die Politik Ottos III. wird entschieden positiv; sie sucht wieder die Stellung des Reiches als eine einzigartige zu betonen, eine feste Autorität den Byzantinern gegenüber zu gewinnen. Zwar wird die Methode der Vermittlung durch Eheverbindung nicht endgültig abgelehnt und es wird ein definitiver Bruch mit Byzanz vorläufig vermieden; denn später werden
die Verhandlungen durch den Bischof Arnulf von Mailand345 wieder aufgenommen. Man bevorzugte es, die Position des Kaisers als Beherrscher des wahren Roms, folglich als den eigentlich berufenen Herrscher der ‘Welt’ nachdrücklich hervorzuheben und so der byzantinischen Tradition und Kultur einen mehrwertigen Faktor entgegenzuhalten.
Zum ersten Male offenbart sich diese positive Gesinnung in dem oben bereits angeführten Brief 187, den Sickel und Schramm mit ep. 186 im Frühjahr 997 ansetzen346. Auf die Einladung Ottos und ihre Anspielung auf den Gegensatz von ‘Grecisca subtilitas’ und ‘Saxonica rusticitas’ haben wir oben schon hingewiesen347. Man hat es hier, wie gesagt, mit einer Wertschätzung der kulturellen byzantinischen Einflüsse zu tun, die, wie der Verlauf der Ereignisse zeigt, nicht die Richtung der Politik des Kreises um Otto bestimmt. Schon aus der Antwort Gerberts geht das unwiderleglich hervor, zumal wenn man gleich das spätere Programm aus dem ‘Libellus’ in Erwägung zieht. Gerbert schreibt nach vielen Höflichkeiten folgendes: ‘Ubi nescio quid divinum exprimitur, cum homo genere Grecus, imperio Romanus, quasi hereditario iure thesauros sibi Greciae et Romanae repetit sapientiae’348. Nur eine anachronistische Interpretation, die symbolisch nimmt, was die Zeit als reale Vorstellung auffassen musste, konnte diesen
wichtigen Satz als ‘rhetorisch’ unbeachtet lassen. ‘Quid divinum exprimitur’ z.B. ist im augustinischen Gedankengang Gerberts unmöglich als eine blosse Zierlichkeit hinzunehmen: buchstäblich wird hier angedeutet, dass die (im folgenden Nebensatz niedergeschriebene) Lösung einer herkömmlichen Antithese in der Person des jungen Kaisers als eine Schickung göttlicher Natur betrachtet wird und dass man die Wichtigkeit dieses Faktums noch kaum messen kann (‘ubi nescio quid...’). Die Wiederherstellung des vereinigten Imperiums stehe bevor; Otto III., griechischer Herkunft und Herrscher über die Stadt Petri, das wahre, alte Rom, suche ‘gleichsam auf Grund des Erbrechts’ die Weisheit der Griechen und Römer zu erwerben. In Otto sei der Gegensatz, der schon seit der Kaiserkrönung Karls des Grossen im ‘römischen Reich’ herrsche, aufgehoben worden, weil er beide Ansprüche in sich vereinige, die Erblichkeit durch Geburt (als Sohn der Theophano) und die Erblichkeit durch Beherrschung Roms.
‘Genere Grecus, imperio Romanus’ ist also eine stilistische Wendung, die einen sehr scharfen Gegensatz enthält; die beiden Satzteile ergänzen einander ja nicht, sondern sie würden einander gerade ausschliessen, wenn sie nicht in der einen Person Ottos vereinigt wären. Dass die Aeusserung so und nicht anders aufgefasst werden soll, beweisen die Ereignisse des Jahres 997, die auf diesen Brief folgen. Otto zeigte sich im Sommer als ein energischer Kaiser des Westens, der keineswegs zu einem Spiel mit seinen abendländischen Interessen geneigt war. Bevor er im November nach Italien zog, hatte er durch straffe Feldzüge die Slaven pazifiziert, die Grenzen des Reiches im Osten gesichert. Ein solches Ergebnis der Anwesenheit Gerberts zeugt an sich schon für unsere Erklärung.
Im Winter 997 aber, ‘in hoc ipso itinere Italico positus’ schrieb Gerbert in seiner Einleitung zum ‘Libellus
de Rationali et Ratione uti’ die weit unzweideutigeren Worte nieder, die wir bereits sein ‘Weltprogramm’ genannt haben349. ‘Nostrum, nostrum est Romanum imperium. Dant vires ferax frugum Italia, ferax militum Gallia et Germania, nec Scithae desunt nobis fortissima regna. Noster es, Caesar, Romanorum imperator et auguste, qui summo Grecorum sanguine ortus, Grecos imperio superas, Romanis hereditario iure imperas, utrosque ingenio et eloquentia praevenis’. Vorher behauptet Gerbert, er habe den Libellus verfasst, ‘ne sacrum palatium torpuisse putet Italia, et ne se solam iactet Grecia in imperiali philosophia et Romana potentia’. Man versteht daraus schon gleich, dass es sich hier um eine Konkurrenz handelt, eine Konkurrenz mit der Grossmacht Byzanz. Nicht nur der Grieche möge sich einer kaiserlichen Philosophie und der ‘weltlichen’ Macht rühmen!350 Der nächste Satz schon lässt durchblicken, dass das okzidentale Imperium, jetzt kraftbewusst sich dieser ‘Romana potentia’ gegenüber fortan nicht mehr passiv zu verhalten wünscht, weil die Person Ottos ja alle Vorzüge des künftigen Imperators über ein wiederhergestelltes ‘römisches Reich’ in sich vereinigt. Man beachte den gehobenen Ton, der in ep. 187 noch weniger entschlossen anmutet; Gerbert umschreibt die Qualitäten des Kaisers, wie sie zu seinem Programm passen. Otto stamme aus einer griechischen Dynastie, ausserdem sei er den Byzantinern überlegen an weltlicher Macht, weil er die Römer kraft seines Erbrechts beherrsche351; dazu komme noch seine persönliche Begabung.
Wichtig ist aber vor allem das ‘Grecos imperio superas’, das eng zusammenhängt mit dem folgenden ‘Romanis hereditario iure imperas’; wir haben diese Beziehung durch eine Kausalverbindung zu übersetzen gewagt (‘weil’). In dem letzten Satzteil fällt nämlich die Wiederholung von ‘imperio’ durch ‘imperas’ auf, und die Vermutung, Gerbert habe in beiden Fällen denselben Begriff beabsichtigt, scheint nicht unzulässig, da wir die genaue Abgrenzung des Begriffes ‘imperium’ im Mittelalter kennen. Die Ueberlegenheit des deutschen Kaisers an ‘imperium’ erklärt sich also durch sein erblich erworbenes ‘imperare’ über Rom, die wahre Stadt der Imperatoren und des Papstes. Eben deshalb ist das ‘nostrum, nostrum est Romanum imperium’, das ‘noster es, Caesar, Romanorum imperator et auguste’ keine Anmassung, sondern ein nach den Zeitanschauungen vollkommen berechtigter Anspruch.
In der Einleitung zum Libellus tritt also der Gegensatz noch klarer hervor wie in ep. 187; ja, es stellt sich heraus, dass eben die griechische Abstammung zu einer spezifisch ‘westlichen’ Politik veranlassen konnte! Gerbert hat diesen Gegensatz zwischen der hochgeschätzten byzantinischen Kultur und seinen politischen Forderungen, der verursacht, dass er sich der griechischen Bildung nicht als Selbstzweck sondern als Argument bedient, mit exakten Angaben erörtert. Als Bundesgenossen des wahren römischen Imperiums nennt er Italia, Gallia, Germania und die Skythen. Er ist also weit entfernt, Gebiete, die dem okzidentalen Imperium nicht zugehörig waren, bei seiner Aufzählung heranzuziehen. ‘Italia’ ist hier selbstverständlich an erster Stelle zu erwarten; es war Otto Untertan, weil die Empörung des
Crescentius schon im Verlaufen war und der endgültige Sieg bevorstand352. Daneben finden sich Gallien und Germanien. Der Namen ‘Germania’ ist unzweideutig; er vertritt hier das östliche Deutschland. ‘Gallien’ dagegen wird von Havet353 und Schramm354 als ‘Lothringen’ interpretiert, während Lux355 an ‘die gesammten west-fränkischen Gebiete’ denkt. Unseres Erachtens existiert zwischen diesen beiden Auffassungen kein Widerspruch. Für die Ottonen als Imperatoren war die Grenze zwischen ‘Lothringen’ und ‘Frankreich’ uberhaupt nicht vorhanden; die Kaiser betrachteten sich als die ‘weltlichen’ Oberhäupter des gesamten Westens, wie die Einmischungspolitik Ottos I. und Ottos II beweist; daher stehen auch die Bezeichnungen der Gebiete nicht fest, sobald es sich um die Welt als Symbol der imperialen Macht handelt. Im allgemeinen lässt sich sagen, dass ‘Gallia’ in den Briefen Gerberts durch ‘das linksrheinische Land’ übersetzt werden kann; so gleichfalls in ep. 111 und in dem Gedicht am Schluss von ep. 186356. Man muss dabei bedenken, dass eine detaillierte geographische Bestimmung für das Imperium keinen Sinn hatte, auch nicht erforderlich war, weil es seine Kräfte aus einer universalen ‘weltlichen’ Autorität schöpfte, die in letzter Linie mit dem Grenzbegriff des Nationalstaates unvereinbar war. Am Ende führt Gerbert die ‘Skythen’ auf, die sla vischen Völker an der Ostgrenze, worin zweifellos die Gebiete Boleslavs von Polen einbegriffen sind357. Auch das ist keines-
wegs sonderbar, weil Otto die Slaven ja eben besiegt hatte.
Die vier von Gerbert angeführten Nationen symbolisieren in geographischer Form das Machtgebiet des römischen Kaisers. Die Anordnung hat demnach ohne weiteres keinen Wert als geographische Bestimmung, weil auch das Imperium, wie wir noch auszuführen haben, seinen Inhalt nicht in geographischer Ausdehnung findet. Trotzdem ist sie ebensowenig zufällig, wie die Abbildungen Ottos III. zeigen, die Kemmerich beschrieben hat358. Es liegen drei verschiedenen Bilder vor, auf denen vier Frauen dem Kaiser huldigen; man findet hier die Kombinationen ‘Germania, Francia, Alemannia, Italia’, ‘Roma, Gallia, Germania, Sclavilia’ und ‘Sclavania, Gallia, Germania, Italia’. Die kleinen Variationen lassen hinsichtlich der allgemeinen Tendenz der Bilder keinen Zweifel übrig, können uns sogar in unserer Ueberzeugung, dass die Macht des Imperiums nur geographisch vorgestellt, nicht geographisch fixiert wird, bestärken359. Auf die Völker des Westens stützt sich das okzidentale Kaisertum, wenn es seine Ansprüche auf die wahre Weltherrschaft erhebt; das Zentrum dieser Völker bilden die Römer, die Träger der kaiserlichen Tradition, die Einwohner der Stadt des Papstes.
Das Programm Gerberts bezieht sich also auf traditionelle Elemente der Ottonenpolitik. Es enthält nicht die phantastische Verstümmelung, sondern die folgerichtige Durchführung einer imperialistischen Mittelmeerpolitik, die gleichfalls eine konsequente Politik im augustinischen Sinne war. Es trägt den sachlichen Verhältnissen Rechnung, ohne
jedoch auf die grosse Richtlinie zu verzichten. Indem es die Grenzen der Machtsmittel vor Augen hat, ist es sich der ideellen Bedeutung einer zeitgemässen Forderung bewusst.
Diese prinzipielle und offensive Ausbildung der Ottonen-politik beschränkt sich auch keineswegs auf die Person Gerberts. In April 998, nachdem Otto also endgültig die Ruhe im ganzen Reiche wiederhergestellt hatte, verfasste Leo von Vercelli sein oben S. 118 ff. schon in einem anderen Zusammenhang zitiertes Gedicht an Papst Gregor V.; ebenda haben wir ausgeführt, wie sich die Anschauungen Gerberts mit denen des Vercelleser Bischofs in Bezug auf die ‘ecclesiastische’ Politik berühren. Desgleichen bewährt sich die Existenz eines geschlossenen und zielbewussten Kreises, wo es sich um die Angelegenheiten der Buzanzpolitik handelt; diese Politik bildet mit der ‘ecclesiastischen’ Verwaltungspolitik eine durch moderne Abstrakta zu gliedernde, nicht von ihr zu lösende Einheit. Die ‘Versus de Ottone augusto et Gregorio papa’, welche man mit Unrecht einseitig nur als das Ausposaunen einer Siegesstimmung betrachtet hat, deuten auf eine politische Ueberzeugung hin, die sich unmittelbar dem ‘Welt’programm Gerberts anschliesst. Schon in der ersten Strophe liest man360: ‘Romam tuam respice’, ‘Romanos pie renova’, ‘vires Rome excita’, ‘surgat Roma imperio sub Ottone tertio’. Weiter ‘Romana iura recreas’, ‘Rome Romam reparas’. Es folgen dann die Verse 19 bis 24:
Wir finden in dem Gedicht zwei Hauptpunkte des Gedankenganges: erstens die Wiederherstellung Roms, zweitens die Unterordnung der östlichen Patriarchalstädte. Nur wenn man sich auf eine rein geographische Deutung der Verse beschränken will (ohne jeden Grund, weil der Text dazu keine Veranlassung gibt!), kann man in diesen Punkten bodenlose Uebertreibung entdecken361. Wie sich aus dem Programm Gerberts und den eben genannten bildlichen Darstellungen bei denen sogar ‘Italia’ und ‘Roma’ miteinander abwechseln, ergibt, ist der Name ‘Rom’ mehr als ein geographischer Begriff. Die Konkretheit des Namens vertritt hier nicht bloss, wie heute, geographische Abgrenzung, sondern Lokalisierung einer bestimmten Funktion auf eine bestimmte Person, auf einen bestimmten Ort362. Als Beispiel einer derartigen konkreten Lokalisierung, die keine Ausnahme, sonder Sitte ist, führten wir oben S. 118 aus dem nämlichen Gedicht bereits die Figur des heiligen Petrus an, dessen Name für das Mittelalter einen funktionellen Wert (das Papststum) vertritt; in diesem Zusammenhang begegnet uns eine ähnliche Verschmelzung von Rom, der Stadt Petri, und der Funktion der universalen Herrschaft. Rom ist eine Funktion, die trotzdem an einen Ort gebunden ist; diese Kombination von Funktion und
Ort bedeutet aber nicht, dass man den Ortsbegriff entweder bloss funktionell oder bloss geographisch aufzufassen hat. Rom vertritt in dem Kreis um Otto III. ein Prinzip, eine Machtausstrahlung; nur stellt man sich dieses Funktionelle statisch, ausgedehnt vor, während wir dynamisch übersetzen würden, genau so, wie das Imperium als Funktion in der ‘Civitas Dei’ für den frühmittelalterlichen Menschen nicht von seiner geographischen ‘Einheit’ zu lösen ist. Die Verse Leos sind nur dann verständlich, wenn man diese Wertung des Konkreten im funktionellen Sinne (ohne die auch der Begriff des Imperiums überhaupt undenkbar ist) gelten lässt, wenn man sich also von dem modernen, nationalstaatlichen Grenzbegriff, mit dem diese Ortsbestimmung Rom nichts zu tun hat, befreit.
Sieht man die Verse Leos in diesem Lichte, so ist ihr Gedankengang nicht nur verständlich, sondern auch als logisch gegliedert zu begreifen. Das Gedicht fordert eine Wiederherstellung des universalen Roms; eine Scheidung eines ‘weltlichen’ und ‘geistlichen’ Roms lag dem Verfasser und seiner Zeit fern. Wie er Otto und Gregorius als Vertreter der Ecclesia Dei feiert, so erblickt er in Rom den Sitz dieser künftigen universalen Herrschaft. Das ‘renovare’ und ‘reparare’ bezieht sich auf die gesamte Ecclesia Dei in ihrer ‘weltlichen’ und ‘geistlichen’ Verwaltung; das geht schon aus dem Umstand hervor, dass Christus und der Papst angeredet werden, wenn von renovatio und reparatio gesprochen wird. Freilich werden die beiden Gewalten, wie wir schon vorher gezeigt haben, in der Ausübung und Abgrenzung ihrer Befugnisse unterschieden; ihr gemeinschaftliches Ziel aber ist die Wiederherstellung Roms, die für die zwei Mächte gleich wichtig war. Auch hier verband ja Kaiser und Papst ein gemeinschaftliches Interesse, das mit den gemeinschaftlichen ideellen Grundlagen verwachsen war. Vielleicht noch deutlicher, als
die oben skizzierte Konkurrenzpolitik der Kaiser, war von alters her der allgemein bekannte Gegensatz zwischen dem Papst und dem Bischof in Byzanz ausgeprägt363. Der Streit datiert schon vom Jahre 474, als Kaiser Zeno einen Konflikt mit dem päpstlichen Stuhl hervorrief. Das Pontifikat Gregors des Grossen364 und der Bilderstreit hatten diesen Gegensatz noch erheblich verschärft. Weit gefestigter als die Ansprüche des ‘romischen’ Kaisers aber war die Position des römischen Bischofs, der ja seinen ideellen Einfluss seiner Einsetzung durch Christus selbst verdankte, während der Patriarch im Schatten des byzantinischen Hofes emporgekommen war. Selbstverständlich würde also auch der erste Reformpapst nach der Zeit des allgemeinen Verfalls, Gregor V., den alten Anspruch wieder in seiner ganzen Tragweite aufgenommen haben, wenn der frühzeitige Tod ihn daran nicht gehindert hätte. Das Gedicht Leos, geschrieben in einer Periode der vorläufigen Sicherung der Ruhe im Reich, einer Periode der Vorbereitung also, verrät jedoch, welche die leitenden Gedanken einer derartigen Politik gewesen sein würden. Das Ziel der Politik Leos ist demnach keineswegs die unbeschränkte, unmittelbare Unterwerfung der Welt; diese ist nur das sekundäre Mittel; primär ist die Wiederherstellung Roms, der Ecclesia Dei, ein weit allgemeinerer Begriff. In den Versen 19 bis 21 gibt der Verfasser diesem Gedanken Form, indem er zwei der ‘quatuor praecipuae sedes’ des Constitutum Constantini als die Untertanen Gregors V. nennt. Auf ‘vetusta Antiochia’ und ‘antiqua Alexandria’ folgen dann (22-24) sofort
die beiden Mittelmeermächte, die Sarazenen (‘Babilonea ferrea’) und die Byzantiner (‘aurata Grecia’), deren Beziehung zum Kaiser in analoger Weise gedeutet wird. Auch in diesem Zusammenhang tritt wieder die innige begriffliche Verbindung des ‘Weltlichen’ und ‘Geistlichen’ klar hervor, so dass nur eine Scheidung der Machtgebiete vorhanden ist365. Wenn wir in Erwägung ziehen, dass die ideelle Autorität des Papsttums eine solchen Anspruch sicherlich nicht als eine Phantasterei erscheinen lässt, dass obendrein die Byzanzpolitik der Ottonen ihn begreiflich macht, so können wir doch der Meinung, das Gedicht Leos von Vercelli sei lediglich das Produkt einer Siegesstimmung, nicht mehr beipflichten; es entbehrt gewiss nicht der Beziehung auf die reale Situation366. Wir müssen es mit der Einleitung zum ‘Libellus’ in den Gedankengang des politischen Kreises um Otto III. einreihen; indem aber Gerbert sich im Winter 997 mit einer Aufzählung der verfügbaren Hilfsmittel begnügt, hat Leo im Frühling 998 das Programm der renovatio in seinem ganzen Umfang formuliert.
In Uebereinstimmung damit begegnet uns am 28. April 998 die erste unzweifelhafte Bleibulle Ottos III.367, mit der Umschrift ‘Renovatio imperii Romanorum’ und der weib-
lichen Figur Roma368. Eine byzantinische Sitte wird aufgenommen, diese Sitte aber entschieden umgeprägt und okzidental bestimmt, wie auch auf den späteren Bullen mit der Umschrift ‘Aurea Roma’369. Die typische Politik der Gleichberechtigung wird also auch in der Besiegelung ausgesprochen; als Programm des Kreises um Otto zeigt sich auch hier die Konkurrenz mit Byzanz, aber diese Konkurrenz ist spezifisch ‘westlich’ gefärbt.
In dem charakteristischen Diplom Leos aus dem nächsten Jahre für das Bistum Vercelli370, merkwürdig auch durch seine ‘ecclesiastische’ Tendenz, kehrt diese Aufassung wieder. ‘Ut... propagetur potentia populi Romani et restituatur res publica....’ So auch DO III 331: ‘qualiter nos... pro restituenda re publica cum marchione nostro Hugone convenimus.....’371 Es ist die Zeit des Zusammenarbeitens von Regnum und Sacerdotium in der Allianz Ottos und Silvesters, die Zeit, in der eine kräftige Byzanzpolitik vorbereitet wurde, wie aus dem Zug Ottos nach Süditalien hervorgeht372. Der Satz ‘ut propagetur potentia populi Romani et restituatur res publica’ ist nur dann verständlich, wenn man unserer Auseinandersetzung mit der Byzanzpolitik der Ottonen Rechnung trägt. Wir haben bereits gesehen, wie Leo in seinem Gedicht an Gregor die Oberherrschaft Roms als ein gemeinschaftliches Ziel von Kaiser und Papst betrachtet; sie ist also erstens eine Frage der Weltanschauung (in Rom wird die Macht von Regnum und Sacerdotium funktionell lokalisiert), zweitens der Weltpolitik (Rom, der Sitz des westlichen Imperiums und des
Sacerdotiums, hat die Aufgabe, die Einheit der Ecclesia Dei durchzuführen, wenn möglich, durch Ausschaltung der byzantinischen Ansprüche); die Anschauung ist die Denkgrenze der Politik. Diese Vermischung der Faktoren offenbart sich besonders klar in DO III 324. Der betreffende Satz ist folgendermassen zu übersetzen: ‘... damit die römische Herrschaft sich (also auf Kosten der byzantinischen Herrschaft!) verbreite und die Einheit des (Gottes)staates wiederhergestellt werde’. Der Begriff ‘ecclesia’ wird hier der Form nach antikisiert; eine oberflächliche Stilvariation, wie wir sie ebenfalls in den Briefen Gerberts angetroffen haben373, die aber unmöglich einen Wechsel der Inhalte bedeuten kann. Die ‘potentia populi Romani’ ist die in Rom lokalisierte Funktion des ‘römischen’ Imperiums, die ‘res publica’ ist die Ecclesia Dei auf Erden, deren Einheit unter einem ‘römischen’ Kaiser und einem ‘römischen’ Papst wiederhergestellt werden soll. Hier wendet sich also der augustinische Begriff des ‘Staates’ (bezw. der ‘Kirche’) unmittelbar gegen Byzanz, hier ist das ‘ecclesiastische’ Problem zugleich Mittelmeerproblem. Wir glauben deshalb nicht fehlzugreifen, wenn wir ‘pro restituenda re publica’ in DO III 331 wiedergeben durch ‘gegen Byzanz’; eine Annahme, welche gestützt wird durch
die ungefähr gleichzeitigen Inspektionsreisen Ottos nach den Grenzgebieten in Süditalien.
Auch das letzte Diplom, in dem man die Hand Leos von Vercelli spüren kann, die Schenkung der acht Grafschaften374, bestätigt unsere Auffassung von der Politik des Kreises um Otto III. Der wichtige Satz am Anfang: ‘Romam caput mundi profitemur, Romanam ecclesiam matrem omnium ecclesiarum esse testamur’, wurde von Bloch durchaus falsch kommentiert, weil er auch die in diesem Satz umschriebene Anschauung für eine rein persönliche Ansicht dieser Politiker hielt. Er meint, Otto habe durch die Form der Urkunde ausgedrückt, ‘dass Rom dem Reiche zugehöre und deshalb sein Bischof, der Papst, wie alle andren Bischöfe des Reichs vom Kaiser gewählt und eingesetzt werde... So wird hier auf der einen Seite jeder Anspruch der Päpste zurückgewiesen und, unter Anerkennung des Primats der römischen Kirche, ihre Abhängigkeit von der kaiserlichen Gewalt zur Geltung gebracht...’375 Der Inhalt der Urkunde konnte bloss deshalb so gänzlich missverstanden werden, weil Bloch mittelalterliche (augustinische) Begriffe ohne begriffliche Kritik übersetzte. Diese Einleitung ist ja weit allgemeiner zu deuten; von dem von Bloch eingeführten Gegensatz von ‘Reich’ und ‘Kirche’ ist in der ganzen Schenkung nicht eine Spur zu entdecken! Die ‘Romana ecclesia’, die ‘mater ecclesiarum’, umfasst ja, wie wir schon oft ausgeführt haben, nicht nur die ‘Kirche’ und den Papst, sondern gleichfalls das ‘Reich’ und den Kaiser. Sie ist die Ecclesia Dei, das ‘corpus permixtum’, an dem Regnum und Sacerdotium Teil haben; ihre Vertreter sind gehalten, ‘pax’ und ‘justitia’ auf Erden zu beschützen
und zu verbreiten376. Diese ‘Romana ecclesia’ hat also mit der päpstlichen Gewalt nicht mehr zu tun als mit der kaiserlichen; ‘Romanam ecclesiam matrem omnium ecclesiarum esse testamur’ ist eine Verstärkung, eine Ergänzung des vorhergehenden ‘Romam caput mundi profitemur’377. Bloch übersetzt: ‘Rom ist das Haupt der Welt und die römische Kirche ist die Mutter aller Kirchen’378; er gibt damit die Absichten Leos nicht wieder, erweckt vielmehr den Eindruck, als ob in den beiden Satzteilen ein Widerspruch zwischen ‘Welt’ und ‘Kirche’ versteckt wäre, was nicht der Fall ist. Die Einleitung bildet das gemeinschaftliche Programm von Kaiser und Papst in ihrem Verhältnis zu den byzantinischen Mächten; sie ist demnach keine Angelegenheit der Verwaltung, sondern der Aussenpolitik, sie verteidigt die Ansprüche des wahren Roms gegen das ‘Rom’ der Makedonen, Byzanz.
Wenn Otto im nächsten Satz Rom die ‘urbs regia’ nennt, so ist das ebensowenig, wie Bloch glaubt379, eine gegen den Papst gerichtete Aeusserung; sie bezieht sich auf den Gegensatz zwischen Rom und Byzanz, der Stadt des Basileus. Die ‘urbs regia’ ist das wahre Rom, und die Bezeichnung ist ein Protest gegen die Anmassung der Schenkung Konstantins, wie wir unten zeigen werden. Auch die Vorwürfe der Korruption und der Verschwendung gegen die Päpste erscheinen in diesem Lichte als vollkommen begründet,
obwohl sie gleichzeitig das Zusammenarbeiten von Kaiser und Papst begründen helfen. Denn die Urkunde rügt das Betragen der früheren Päpste, weil diese dadurch einen Zustand der ‘confusio’ geschaffen haben, weil sie durch Verkürzung der Rechte des Imperiums die Stellung des wahren Roms beeinträchtigten (‘sed incuria et inscientia pontificum longe sue claritatis titulos obfuscasse’). Die Schenkung der acht Grafschaften geschieht freiwillig von Seiten des Imperiums, nicht weil der Kaiser sich notgedrungen mit den Forderungen Gregors und Silvesters abfinden musste380, sondern nur, weil er durch die Erhebung seines Freundes den Zustand der ‘pax’ in der Verwaltung der Ecclesia wiederhergestellt glaubte und jetzt aus freiem Entschluss und in Einverständnis mit dem Stellvertreter Petri über Dinge verfügen konnte, die seinem Machtgebiete angehörten. Die Schenkung ist also der Beweis dafür, dass Kaiser und Papst gemeinschaftlich davon überzeugt sind, dass die Einheit der Verwaltung nicht länger eine Fiktion ist und dass in der ‘urbs regia’ fortan eine einmütige Politik der ‘renovatio’ in Aussicht gestellt werden kann.
Die Urkunde richtet sich gegen die Spaltung des Imperiums, also gegen Byzanz. Und infolgedessen ist es nicht befremdlich, dass ihr Verfasser in erster Linie die konstantinische Fälschung mit Nachdruck ablehnt381. Seitdem die Echtheit von DO III 389 nicht mehr angezweifelt wird, hat man jedoch manchmal vergeblich versucht, die Stellungnahme Ottos zum
sog. Konstantin in den Gedankengang seiner Politik einzureihen. Trotzdem lässt sich die Tendenz der Ablehnung ziemlich leicht einsehen, wenn man den Text der Schenkung näher betrachtet. Bekanntlich ist das Constitutum Constantini eine Fälschung, die, aufgenommen in die pseudoisidorische Sammlung, hauptsächlich im späten Mittelalter vielfache Spekulationen veranlasst hat. Für unseren Gegenstand kommt nur in Erwägung, dass sie völlig im Widerspruch stand zu den Richtlinien der Politik Ottos III., weil sie das leitende Prinzip dieser Politik, sowohl in Bezug auf die Frage der Verwaltung, wie auf das Verhältnis zu Byzanz, entkräftete. Wenn auch die Schenkung in dieser Zeit keineswegs eine so welthistorische Rolle spielte, wie es später der Fall war, so hat sie nichtsdestoweniger gerade für den Kreis um Otto eine eigentümliche Bedeutung. ‘Konstantin’ erhebt hier ja das Papsttum sichtlich über das Kaisertum, indem er das Pontifikat mit ‘weltlichen’ Ehrenzeichen ausstattet; er tut das in Worten, die sogar 1245 von Papst Innozenz IV. als eine Rückgabe der ‘weltlichen’ Macht erklärt werden konnten! ‘Et sicut nostram terrenam imperialem potentiam, sic eius (B. Petri) sacrosanctam Romanam ecclesiam decrevimus veneranter honorari, et amplius quam nostrum imperium et terrenum thronum sedem sacratissimam beati Petri gloriose exaltari, tribuentes ei potestatem et gloriae dignitatem atque vigorem et honorificentiam imperialem... Unde ut pontificalis apex non vilescat, sed amplius etiam quam terreni imperii dignitas et gloriae potentia decoretur: ecce tam palatium nostrum382 ut praedictum est, quamque urbem
Romam et omnes totius Italiae seu occidentalium regionum provincias, loca et civitates, praefato beatissimo pontifici nostro Silvestro universali papae383 concedimus atque reliquimus, et successorum ipsius pontificum potestati et ditioni, firma imperiali censura, per hanc divalem nostram et pragmaticum constitutum decernimus disponendum, atque iuri sanctae Romanae ecclesiae concedimus permansurum. Unde congruum prospeximus nostrum imperium et regni potestatem in orientalibus transferri ac transmutari regionibus, et in Byzantiae provinciae optimo loco nomini nostro civitatem aedificari, et nostrum illic constitui imperium; quoniam ubi principatus sacerdotum et Christianae religionis caput ab imperatore coelesti constitutus est iustum non est ut illic imperator terrenus habeat potestatem’384.
Aus diesem Text des Constitutum erhellt, wie gefährlich die Motive ‘Konstantins’ für das Regierungssustem Ottos und Silvesters sein mussten. Nachdrücklich wird ja in der Schenkung behauptet, Konstantin habe dem Papst einen Teil der imperialen Befugnisse verliehen und dadurch die Oberherrschaft des Pontifikates auch in ‘weltlichen’ Sachen anerkannt. Ja sogar habe er Rom verlassen, weil es nicht ‘justum’ sei, dass in der Stadt Petri auch der Vertreter des Regnums seinen Sitz habe. Es ist das wichtiger, als die Tatsache der Schenkung selbst; denn auch Otto schenkt ja seinem Papst weltliche Güter. Wie wir gesehen haben, ist die Politik des Kreises um Otto III. auf einem dem ‘konstantinischen’ entgegengesetzten Prinzip basiert: ‘sub caesaris otentia, purgat papa secula’. Man vergleiche die ‘Versus
de Ottone augusto et Gregorio papa’, die ja gleichfalls von Leo von Vercelli herrühren. Das Gedicht ist bereits eine lyrische Opposition gegen die hierarchische Deutung des augustinischen Verwaltungsgedankens, wie sie im Constitutum Constantini vorliegt; in Rom konzentriert sich ja die Ecclesia und ihre Doppeltverwaltung; Kaiser und Papst arbeiten unter einem Himmel an der Wiederherstellung derselben Ecclesia. Ablehnung der Fälschung war für Otto und seine Politiker reine Selbstbehauptung. Ein Dokument, das dem Papst Befugnisse verlieh, welche nach ihren Ansichten nur dem Kaiser gebührten, das obendrein das Hauptziel der sächsischen Kaiser, die Stadt Rom, der Sonderherrschaft des Papstes überliess, konnte nicht geduldet werden. ‘Nostrum, nostrum est Romanum imperium’; auch Gerbert-Silvester beanspruchte für das okzidentale Imperium Rechte, die ja nicht der Stellung des Papsttums Abbruch taten, sondern nur beiden Gewalten Grenzen vorschrieben.
Die Schenkung der acht Grafschaften ist eine logische Polemik der vereinigten Gewalten gegen die Anmassung der Fälschung; man kann sich nicht genügend vergegenwärtigen, dass in dem System Ottos und Silvesters eine Anschauung gegeben war, die sich mit der Oberherrschaft des Papstes, einer Art ‘weltlichen’ Lehnsherrschaft also, nicht vertragen konnte, weil sie ein harmonisches Ebenmass der beiden Faktoren anstrebte, lokalisiert in der Stadt Rom. Indem das Constitutum Constantini wiederholt die Schenkung von Italien auf alle ‘successores’ des heiligen Petrus überträgt und Verächter der Schenkung mit höllischen Strafen bedroht, beginnt DO III 389 mit einer scharfen kritischen Verurteilung dieser ‘successores’, welche die Güter des Apostels verschwendet haben. Rom wird ‘nostra urbs regia’ genannt, im Gegensatz zur Behauptung ‘Konstantins’, er habe die Stadt verlassen, weil sie das ‘principatus sacerdotum et Christianae religionis caput’ beherberge. Den unwürdigen Nach-
folgern Petri wird vorgeworfen, sie hätten die Schenkung selbst erdichtet, und ‘Johannes diaconus cognomento Digitorum mutilus’385 habe die Fälschung mit goldenen Buchstaben geschrieben386. ‘Spretis ergo commenticiis preceptis et imaginariis scriptis’ werden die acht Grafschaften Papst Silvester II. verliehen; auch dies im bewussten Gegensatz zum Constitutum Constantini (‘ut pontificalis apex non vilescat etc.’) als eine persönliche Dotation (‘pro amore.. domni Siluestri’, ‘ut habeat magister quid principi nostro Petro a parte sui discipuli offerat’.) Gerade dieser Satz ist besonders einleuchtend; jeder ‘weltliche’ Besitz wird unzweideutig als eine Gunst von Seiten des Imperiums charakterisiert387.
Die Ablehnung des Constitutum Constantini, ein wichtiges Moment in der Politik Ottos III., ist folglich ebenfalls als Beitrag zur Kenntnis der Mittelmeerfrage interessant. Der Kaiser des ‘Westens konnte niemals die von “Konstantin” geschaffene Mehrwertigkeit des Papsttums, die einen Eingriff in sein Machtgebiet und die Illegalitat eines “römischen”
Kaisers überhaupt bedeutete, anerkennen. So war die Verdächtigkeit des von einem Johannes Diaconus geschriebenen Dokuments ihm sehr willkommen. Die Uebersiedelung Konstantins nach Byzanz, aber auch die Autorität des oströmischen Kaisers verloren dadurch ihren Nimbus; das Kaisertum des Westens, der Karolinger und der Ottonen, wurde um so mehr verstärkt. Dass ein sächsischer Kaiser die Echtheit der konstantinischen Fälschung bestreitet, ist demnach eine Tat völlig opportunistischer Taktik und eine Frucht der Diplomatie eines Gerbert und eines Leo von Vercelli, die ihr Ziel, die Wiederherstellung der Ecclesia unter einem abendländischen Kaiser und einem römischen Papst, vorzüglich kennzeichnet. -
Wenn oben S. 94 noch dahingestellt bleiben musste, ob in der Titulatur Ottos eine “antiquarische Reminiszenz” oder eine Stellungnahme zum byzantinischen Reiche vorlag, so braucht jetzt nicht mehr bezweifelt zu werden, dass eben die urkundlichen Titel des Kaisers sein Verhältnis zum “neuen” Rom Konstantins angedeutet haben. Schon Otto II. forderte durch die Bezeichnung “Romanorum imperator augustus” das wahre römische Imperium für die sächsischen Kaiser388; Otto III. erweiterte den Anspruch im Sinne seiner “ecclesiastischen” Politik, indem er sich “Romanus”, “Saxonicus” und Italicus’ nennen liess389; gleichzeitig aber proklamierte er als ‘servus Jesu Christi’ und ‘servus apostolorum’390 die
ebenbürtige göttliche Beschaffenheit der ‘weltlichen’ neben der ‘geistlichen’ Macht, im scharfen Gegensatz zum Constitutum Constantini, das dem Imperium nicht einmal die Stadt Rom, geschweige denn die Herrschaft im Okzident gönnte. ‘Romanus', “Saxonicus”, Italicus’ ist der Kaiser als Beherrscher des Okzidents; wie im Programm Gerberts, wie auf den bildlichen Darstellungen391, wird auch hier das Machtgebiet geographisch abgegrenzt, in der Gruppierung der Gebiete um Rom aber zugleich ein Anspruch erhoben. ‘Servus Jesu Christi’ oder ‘servus apostolorum’ ist Otto, weil Christus, nicht nur sacerdos, sondern auch rex der Ecclesia, ihm die ‘weltliche’ Macht verliehen hat, damit er wie die Apostel das Gottesreich in der Welt verbreite und beschütze. Ein Verschwimmen der Grenzen zu Gunsten des Pontifikates, wie die konstantinische Fälschung es beabsichtigt, wird durch die Verwendung dieser Titel abgelehnt; das Imperium verdankt seine Rechte ja gleichfalls dem Oberhaupt der Ecclesia, Christus; auch dem Kaiser ist die Pflicht auferlegt, innerhalb seines Machtgebietes, neben, nicht unter dem Papst an der Verbreitung und Sicherung der Ecclesia mitzuarbeiten. So zeigt sich in der Titulatur die Opposition gegen die Anmassung der konstantinischen Fälschung, gegen Byzanz, in engster Verbindung wie wir schon in einem anderen Zusammenhang ausführten392, mit den Zeitanschauungen über die ‘humilitas’ des gottesfürchtigen Herrschers. Die Stadt Rom, die ‘humilitas’ des okzidentalen Kaisers, die Ebenbürtigkeit der ‘weltlichen’ und ‘geistlichen’ Macht, fliessen in der Politik Ottos III. zusammen und werden als Argumente gegen die Autorität des byzantinischen Kaisers verwandt.
Fassen wir jetzt die Ergebnisse unserer Untersuchungen über den politischen Kreis um Kaiser Otto III. zusammen, so bemerken wir hauptsächlich zwei Gesichtspunkte. Verwaltungspolitisch: Streben nach einer Harmonie von Regnum und Sacerdotìum, indem die ‘weltlichen’ Rechte des Regnums kräftig betont werden. Aussenpolitisch: Wiederherstellung der Einheit in der Ecclesia, mit Hervorhebung der Rechte des wahren Roms im Mittelmeerterritorium. Kaiser und Papst haben in diesem Projekt ein gemeinschaftliches Ziel; nicht der Kampf um die Abgrenzung ihrer Befugnisse, sondern ihre gemeinschaftlichen Interessen und ihre gemeinschaftlichen Aufgaben Byzanz gegenüber treten in den Vordergrund. Die beiden Gesichtspunkte sind, wie wir konstatierten, untrennbar; sie bilden nur zwei Seiten einer möglichst konsequenten augustinischen Politik, die nur aus dem universalistischen Charakter dieser Weltanschauung erklärt werden kann und ein energischer Versuch ist über die in erster Entwicklung begriffene Idee des Nationalstaates, der Landesgrenze, den weit allgemeineren Begriff des Gottesstaates, für den keine irdischen Grenzen existieren, zu stellen.
Otto III. hat nicht so lange gelebt, dass er und seine Mitarbeiter in der Ausführung dieser Pläne hlätten fortfahren können. Schon deshalb haben Giesebrecht und seine Nachfolger die Leistungen des Kaisers, den obendrein eine neue Empörung im Febr. 1001 wieder von seiner Arbeit wegrief, ungerecht beurteilt. Wenn man in Betracht zieht, dass dem Kreis um Otto alle ‘nationalen’ Interessen fremd gewesen sind, gleichfalls aber, dass eine reale politische Begabung nicht schlechthin mit solchen Interessen identifiziert werden darf, dass sogar die meistgepriesenen deutschen Kaiser im Gegenteil sich immer wieder mit diesen universalistischen Problemen beschäftigt haben, so wird man auch die wenigen Taten Ottos, die wir an dieser Stelle noch zu überblicken haben, ohne ‘nationalistische’ Voreingenom-
menheit im Zusammenhang mit seinen Ideen zu verstehen suchen.
Wir haben oben S. 155 schon die Züge Ottos nach Monte Gargano und den süditalienischen Fürstentümern, später nach Subiaco (Frühling und Sommer 999) erwähnt, im Zusammenhang mit DO III 324 (7. Mai 999) und 331 (7. Okt. 999). Ueber die politischen Absichten der Züge ist kaum etwas bekannt, weil die zeitgenössischen Autoren fast ausschliesslich ihren Charakter als Bussgang gewürdigt haben393. Zweifellos sind sie aber politischer Natur gewesen, wie schon Lux394 und Hartmann395 angenommen haben. Der Gehorsam der langobardischen Fürstentümer, auf den die Ottonen immer hohen Wert gelegt hatten, war für Otto III. dermassen wichtig, dass er zwecks Sicherung der Reichsgrenzen gegen die Byzantiner und die Sarazenen unbedingt eine Inspektion unternehmen musste. Uebrigens beweisen die Züge, dass die Autorität des Kaisers in Capua und Benevent anerkannt wurde; es galt hier die Befestigung der südlichen Stationen der imperialen Macht, ohne die keine erfolgreiche Byzanzpolitik möglich war.
Eine viel eigentümlicher ausgeprägte Aeusserung der Grundgedanken Ottos III. ist aber der merkwürdige Zug nach Gnesen im Jahre 1000396, den Hartmann mit Recht als
‘ein Gegenstück zu der Bussfahrt nach dem Monte Gargano’ bezeichnet397. Wie die süditalienische Reise ist auch diese weit mehr als eine persönliche und phantastische Laune des Kaisers; sie weist abermals darauf hin, dass die ‘ecclesias-tischen’ Politiker sich bestimmte reale Vorstellungen von der Praxis gemacht hatten und dass sie diese Vorstellungen durchzuführen suchten. So wenig es denkbar ist, dass der Vertreter des Imperiums sich in Süditalien nur mit Bussübungen beschüftigt habe (schon die während der Züge ausgestellten Urkunden zeigen das Gegenteil), so wenig ist es glaubhaft, dass der nämliche Imperator einer rein individuellen Hinneigung zuliebe mit seinem Heer über die Alpen gezogen wäre. Allerdings wird die Auffassung, Otto habe durch die Gründung des Erzbistums Gnesen und die Lockerung der Beziehungen zwischen Polen und dem deutschen Reich einen völlig unpolitischen Fehler begangen, auch durch Historiker, die ihm einen Mangel an politischer Begabung vorwerfen, nicht mehr gänzlich in Schutz genommen398. Das Urteil wurde dennoch nicht selten durch nationalistische Motive getrübt; man behauptete, Otto habe Polen und die polnische Kirche auf immer von Deutschland getrennt, man meinte, schon Thietmar habe diese Anschauung verdeckt ausgesprochen399. Das erste Urteil trifft überhaupt nicht zu, weil Otto diese übrigens normale Trennung nicht einmal beschleunigt hat; in Bezug auf das zweite zitieren wir die Worte Thietmars. Nachdem er die Reise Ottos und den Empfang durch die Reichsgrossen verzeichnet hat,
fährt er fort: ‘(Otto) videns a longe urbem desideratam (= Gnesen), nudis pedibus suppliciter advenit, et abepiscopo eiusdem Ungero venerabiliter succeptus, aecclesiam introducitur et ad Christi gratiam sibi impetrandam martyris Christi intercessio profusis lacrimis invitatur. Nec mora, fecit ibi archiepiscopatum, ut spero legitime, sine conscientia tamen prefati presulis, cuius diocesi omnis haec regio subiecta est...’400. Es wäre verfehlt, in dem Nebensatz ‘ut spero legitime’ einen Hinweis auf ‘nationalistische’ Beschwerden von Seiten Thietmars suchen zu wollen; nicht nur passt das kaum zu seiner später zu untersuchenden Auffassung von dem Kaisertum Ottos401, sondern der Zusammenhang verdeutlicht seinen Zweifel; Bischof Unger von Posen hat die Gründung des neuen Erzbistums nicht gebilligt. Der Zweifel Thietmars ist abhängig von seinen Ansichten über die aetas ferrea, in der Otto regiert und von seiner ‘realistischen’, körperlichen Auffassung von der ‘Verstümmelung’ eines Bistums402. Diese Stelle ist folglich nicht als Beleg für die Existenz einer ‘nationalistischen’ Gegenströmung anzuführen; eine solche Erklärung ist eine anachronistische Verallgemeinerung.
Merkwürdigerweise hat schon 1867 H. Zeisseerg die Vermutung ausgesprochen, Ottos Benehmen Boleslav von Polen gegenüber sei von ganz anderen als destruktiven Motiven veranlasst worden403. ‘Man wird bei diesem Verhältnisse Otto III. im ganzen milder beurteilen müssen, als in der Regel bei neueren Schriftstellern geschieht. Es war nur billig,
dass der, welcher dem Reich in einer Reihe von Feldzügen gegen die Wenden die erspriesslichsten Dienste und der Mission unter den Heiden allen möglichen Vorschub geleistet, der Verpflichtung zur Tributleistung404 enthoben wurde, die ihn bisher den von ihm bekämpften Wenden-fürsten gleichgestellt hatte’405. Boleslav bleibt, wie Zeissberg richtig bemerkt, Vasall des Reiches, auch unter Heinrich II.406; während des Aufenthaltes Ottos in Gnesen wurde das tributäre Verhältnis in ein Vasallitätsverhältnis verwandelt.
Ebenfalls von Zeissberg rührt die Meinung her, Boleslav habe von Otto das ‘Patriziat’ erhalten407, nämlich die in der ‘Graphia aureae urbis Romae’ umschriebene ‘patricii dignitas’408. Er gründet das auf eine Nachricht der späteren ‘Chronica Polonorum’, die durchschnittlich als gut informiert anzusehen ist: ‘Imperator eum (Boleslav) fratrem et cooperatorem imperii constituit et populi Romani amicum et socium appellavit’409. Freilich darf die ‘Graphia’ hier nicht als Beweis herangezogen werden, weil sie keine Deutung des Patriziats in diesem Sinne gibt, obendrein eine spätere und theoretische Quelle ist410. Mit Recht aber vergleicht Zeissberg die Wendung der Chronica mit dem in Byzanz üblichen Titel φίλοι ϰαὶ σύμμαχοι Ῥωμαιῶν, den man dort befreundeten Fürsten beilegte411. Diese Nachricht der Chronica sagt also nichts aus über das Patriziat, desto mehr aber
über die Vorstellung von ‘imperium’ und ‘populus Romanus’, wie sie in dem Kreis Gerberts und Leos von Vercelli herrschte. Der Zug nach Gnesen zeigt, wie man die ‘potentia populi Romani’ in DO III 324 zu verstehen hat, wie man das ‘nostrum, nostrum est Romanum imperium’ zu verwirklichen suchte, nämlich durch die Gründung einer Art ‘kooperativen’ res publica, dieser Form der ecclesia, welche auch Augustin empfiehlt412. Dass eine solche Form nicht rein phantastisch ist, ergibt sich aus dem verwandten Lehnsverhältnis. Die christlichen Fürsten in einem Lehnsverhältnis zum christlichen Imperator, die Ecclesia Dei die Einheit der ‘regna parva’: das ist das Ideal, das den Ottonen vorgeschwebt hat und das in der Politik Ottos III. wiederholt zum Ausdruck kommt. Dass Otto Boleslav ‘fratrem et cooperatorem constituit et populi Romani amicum et socium appellavit’, ist nicht die Aufhebung, sondern die ‘ecclesiastische’ Befestigung, die politische Verlängerung der Vasallität, wie sie später Papst Gregor VII., dann freilich unter Betonung der päpstlichen Oberherrschaft durchführen wollte. Wie gegenüber den langobardischen Fürstentümern in Süditalien, so auch in seinem Verhalten zu Boleslav von Polen, und, soweit wir es nachweisen können, gleichfalls zu Stephan von Ungarn413, bildet die Grundlage der Politik Ottos die
augustinische ‘libertas’414; unter dem Schutz der Ecclesia, von Regnum und Sacerdotium (Romam caput mundi esse profitemur), welche pax und justitia verbürgen, regieren die Fürsten, damit, wie Augustin formuliert, die Herrschaft keine Unterdrückung, sondern nur die notwendige Folge des Sündenfalls sei.
Nach dem Aufenthalt in Gnesen weilte Otto von April bis Mai 1000 in Aachen415. In dieser Zeit besuchte er das Grab Karls des Grossen, stieg sogar in die Gruft hinab und erwies dort dem Leichnam seine sonderbare Verehrung416. Auch diesem Besuch fehlte ein Absicht nicht, wie aus einem Passus in den Quedlinburger Annalen ersichtlich wird; sie sagen von Aachen, dass es die Stadt war, ‘quam (Otto) etiam cunctis tunc post Romam urbibus praeferre moliebatur’417. In Karl und der Kaiserpfalz Aachen, wo er nach seinem Wunsche beerdigt wurde418, verehrte Otto mit Recht das Symbol seiner eigenen Politik, dieser universalistischen Politik, die im Okzident durch Karl ihre Auferstehung
erlebt hatte, indem er als ‘imperator felix’, als ‘pacificus’, Ansprüche auf die wahre kaiserliche Macht in der Ecclesia erhoben hatte419. Will man also von einer ‘Rückkehr zur karolingischen Politik’ sprechen, so beachte man, wie wir oben S 92 schon bemerkten, dass diese ‘Rückkehr’ sicher nicht einer individuellen Schwärmerei für die Vergangenheit gleichzusetzen ist. Die Form des Besuches mag freilich als individuelle Eigentümlichkeit erklärt werden, der symbolische Wert schwindet damit nicht. Denn die ‘ecclesiastische’ Politik Karls des Grossen, sowohl dem Papsttum wie Byzanz gegenüber, war wesentlich auch die Politik des Kreises um Otto III., obschon dieser sich anderer Mittel bedienen musste und dem Emporkommen der Nationalstaaten Rechnung zu tragen gehalten war. In diesem Sinn trifft die Meinung Haucks zweifellos zu, es sei ein genialer Gedanke, dass Otto den alten Auspruch nicht nur ergriffen, sondern auch umgebildet habe; so ergriff später Gregor VII. denselben Anspruch, indem er ihn zeitgemäss umbildete. Trotzdem dürfen wir von dem ‘alten Anspruch’ sprechen, weil er, ‘universalistisch’ und ‘ecclesiastisch’, die Jahrhunderte hindurch den Gegenpol zu einer sich allmählich entwicklenden Politik der Nationalstaaten, der Landesgrenzen, gebildet hat. Wie aus dem Zug nach Gnesen hervorgeht, fand Otto sich mit der Existenz der werdenden Nationalstaaten ab; der Kaiser verhielt sich konsequent und vertrat, als er den Staat der Polen zu einer ehrenvollen Vasallität erhob, die Interessen des Imperiums als universalistische Regierungsform.
Als letztes Glied in der Kette der uns bekannten ‘imperialistischen’ Versuche Ottos ist die geheimnisvolle Inkognitoreise nach Venedig während seines Aufenthaltes in Norditalien (Frühjahr 1001) zu betrachten, welche den äusserlichen Begebenheiten nach in dem Chronicon Venetum des
Johannes Diaconus ziemlich ausführlich verzeichnet worden ist.420 Dennoch bleibt man wegen der Kärglichkeit der wirklich aufklärenden Nachrichten, zweifellos durch den nicht öffentlichen Charakter der Reise mit veranlasst, durchweg im Unklaren über Einzelheiten, die für unsere Kenntnis der ottonischen Politik von unschätzbarer Bedeutung gewesen sein würden. Aeusserlich erfahren wir hauptsächlich, dass Otto, begleitet von verschiedenen ‘optimates’, den Dogen von Venedig, Peter II. Orseolo, ‘dilectionis gratia’ heimlich besuchte und sich eingehend mit ihm unterhielt421; ein für den Dogen ausgestelltes Diplom erlässt ihm und seinen Nachfolgern die Abgabe des Palliums und des Tributes bis auf fünfzig libri422. Weiter gibt aber auch Johannes Diaconus keinen Aufschluss.
Trotz des Mangels an Nachrichten lässt sich doch soviel sagen, dass Ottos Politik offenbar in Venedig dieselbe war wie in Gnesen. Dem Dogen wurde eine ehrenvolle Erleichterung des Tributes zugestanden, obgleich das Verhältnis der Vasallität unerschüttert blieb, wie der Vorbehalt der fünfzig libri zeigt. Es lässt sich behaupten, wenn auch keine Quelle es direkt bestätigt, dass diese persönliche Annäherung Ottos ebenfalls seiner ‘ecclesiastischen’ Politik entspricht; und das um so mehr, weil die Seestadt Venedig ein höchst wichtiger Posten im Mittelmeer war. Johannes Diaconus kennzeichnet Peter Orseolo als einen energischen Herrscher, der einerseits die imperiale Oberhoheit anzuerkennen geneigt war423, andererseits lebhafte Beziehungen zu Byzanz und den
Sarazenen unterhielt424. Es galt hier also die Zugehörigkeit Venedigs zum okzidentalen Imperium zu verstärken, nötigenfalls durch einen persönlichen Besuch. Dass die Annäherung auch hier ebensowenig wie in Polen durch eine Verstärkung des tributären Zwanges geschah, charakterisiert wieder die Auffassung Ottos von dem universellen Wesen des Imperiums, das den gegliederten Bau der mittelalterlichen Gesellschaft politisch repräsentieren sollte. Nicht durch eine unnütze Bekämpfung der nationalstaatlichen Entwicklung, sondern durch ein System der föderalen Unterordnung wurde die ‘Wiederherstellung des römischen Reiches’ unternommen.
Ob mit dem Besuch bei Peter Orseolo die neue Gesandtschaft des Erzbischofs Arnulf von Mailand im Sommer 1001425 zusammenhängt, lässt sich vermuten, aber nicht quellenmässig ermitteln426. Immerhin spricht es für die Position des Kaisertums Ottos, dass die Verhandlungen über die Heirat jetzt in wenigen Monaten mit gutem Erfolg beendigt werden konnten, sodass Arnulf die Prinzessin, eine Tochter Konstantins VIII., bald nach Italien begleitete. Die Wichtigkeit dieser Tatsache darf man nicht unterschätzen; sie bedeutet nicht mehr oder weniger als eine Konzession von Seiten der Makedonen, abermals eine Anerkennung des okzidentalen Kaisertums im Orient. Bevor er jedoch seine Braut gesehen, starb Otto, im Begriff, seine meuterische Kaiserstadt zu unterwerfen, im Begriff auch die ersten zielbewussten Schritte einer vielumfassenden Mittelmeerpolitik durch eine symbolische Ehe abzuschliessen. Der Tod vernichtete das Zentrum einer Aktivität, die in dieser Form nicht wieder aufgelebt ist. -
In den vorstehenden Zeilen versuchten wir die Politik Ottos III. und seiner Mitarbeiter als Phänomen eines bereits ziemlich weit fortgeschrittenen politischen ‘Internationalismus’ zu zeigen. Man braucht nur das von Schramm aufgestellte Verzeichnis der gegenseitigen Gesandtschaften427 zu lesen, um sich zu vergegenwärtigen, dass zwischen den Grossmächten der frühmittelalterlichen Welt ein reger diplomatischer Verkehr bestand; die Briefe Gerberts und des byzantinischen Gesandten Leo beweisen, wie man überall auch die Situation in entfernten Gegenden beobachtete und zu seinem Nutzen verwendete. Dennoch hat die Geschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts, sofern sie sich nicht speziell mit der Kirchengeschichte beschäftigte (in Bezug auf das Mittelalter streng genommen eine unzulässige Abstraktion!), diesem ‘Internationalismus’ wenig Aufmerksamkeit gewidmet; sie betrachtete ihn doch meist nur als eine dunkle Vorstufe der modernen Staatenbildung. Folglich wurde die Figur Ottos III., eines Kaisers, der sich um den Ausbau eines ‘nationalen’ Deutschlands freilich nicht im Geringsten gekümmert hat, in der bisherigen Historiographie häufig die Karikatur eines Herrschers, die Karikatur auch des Universalismus, obwohl er doch nur die Politik seiner Vorgänger fortsetzte. Welche Elemente zu dieser Auffassung beitrugen, haben wir, mit Ausnahme der Verbindung von Universalismus und Askese, die wir im nächsten Kapitel behandeln, schliesslich noch zu untersuchen.
Erstens haben wir bei den Historikern eine Skepsis hinsichtlich der Realität der mittelalterlichen Begriffe zu konstatieren; Bernheim hat an verschiedenen Stellen seines Buches darauf hingewiesen. Im allgemeinen hegt man Zweifel gegen eine begriffliche Realität, wie z.B. des Wortes ‘Ecclesia’, wenn diese Realität heute nicht mehr besteht. Die
Zweiheit ‘Staat-Kirche’ deckt sich für den modernen Menschen ungefähr mit der psychologischen Zweiheit ‘Zusammenleben-Zusammenglauben’; folglich ist man geneigt, das Zusammenleben schlechthin mit dem Staat, dagegen das Zusammenglauben schlechthin mit der Kirche zu identifizieren. Man soll sich aber vor Augen halten, dass die Identifizierung dieser Funktionen mit diesen Kollektivitäten nur für die moderne Gesellschaft brauchbar ist, dass im zehnten Jahrhundert z.B. die Kollektivität ‘Ecclesia’ Leben und Glauben umfasste428. Demnach war die theoretische Richtschnur der kaiserlichpäpstlichen Politik, was praktisch auch daraus im Lauf der Jahrhunderte geworden sein möge, diese Ecclesia mit ihren universalistischen, übernationalen Tendenzen; Richtschnur, nicht Vorwand, wie man es manchmal fasst. Der ‘ecclesiastische’ Universalismus kreuzt sich mit der Genesis der Nationalstaaten, ist ihr aber nicht gleichzustellen. Im Kreise Ottos III. ist der Massstab ‘Staat’ unbekannt, der Massstab ‘Kirche’ ebenfalls; begriffliche Realität ist nur die Ecclesia Dei, begrifflich scheidbar sind nur die Gewalten in der Ecclesia: Regnum und Sacerdotium. Es ist klar, dass, wie sich übrigens in den sozialen Verhältnissen, aus dem Lehnswesen ergibt, die universale Macht im Mittelalter nur als Gipfel einer Föderation denkbar ist. Die Praxis der föderalistischen Ecclesia soll man nur nicht verwechseln mit einer Theorie der Nationalstaaten, die erst in der Zeit der Laienkultur entsteht. Man hat häufig den Fehler begangen, die Bindung der ‘Ecclesia’ geringzuachten, weil man überall die Sondergewalten auf ‘weltlichem’ und ‘geistlichem’ Gebiet aufkommen sah. Dennoch ist ein bewusster Gegensatz zwischen Sondergewalt und Universalgewalt, zwischen germanischer und christlicher Tradition, zwischen Nationalkirche und Universalkirche nicht vorhanden; die
Gründung eines Staatsrechts, einer Landeskirche ist eine spätere Erscheinung. Man findet z.B. das herkömmliche (germanische) Friedensamt des Königs untrennbar mit dem augustinischen Friedensgedanken verbunden429. ‘In der germanischen Geisteswelt war das gewohnheitsrechtlich Ueberkommene nicht zu systematischem Bewusstsein erhoben; es wurde das erst in der Sphäre der christlichen Ideenwelt, und daher überwogen die christliche Ideen in den Anschauungen durchweg die germanischen Elemente’430.
Nur aus der begrifflichen Realität der Ecclesia erklären sich Phänomene wie die unerschütterliche Autorität des Papsttums, wie der ‘Trieb’ der deutschen Kaiser nach Italien, wie die ‘Wiederherstellung des römischen Reiches’ im Sinne einer Union mit Byzanz; man hat das nur verkennen können, weil man Kaiser und Papst einen theoretischen Begriff des Nationalstaates untergeschoben hat, der ihnen völlig fremd gewesen ist. Im Gegenteil, sogar jede ‘nationale’ Organisation bleibt an die Denkgrenzen des Universalismus gebunden. Arnulf von Orléans protestiert auf dem Reimser Konzil der französischen Bischöfe gegen die ‘cupiditas’ und die ‘invidia’, welche in Rom herrschen; er stellt aber nachdrücklich fest: ‘Nos quidem.. Romanam ecclesiam propter beati Petri memoriam semper honorandam decernimus, nec decretis Romanorum pontificum obviare contendinmus...’431 und weiter: ‘At si forte de episcopis causa nata fuerit, unde certa et expressa in sacris regulis non habemus judicia, et ob id in provinciali vel in comprovinciali nequeat examine diffiniri, ad divinum oraculum, id est ad apostolicam sedem, nobis inde est recurrendum’432. Während einer Zeit des Verfalls und der Ohnmacht
des Papsttums genügt die begriffliche Realität der ‘beati Petri memoria’, um jeden Gedanken der Untreue gegen Rom zu entkräften! Wie Arnulf noch einmal betont: ‘At nos.. Romanam ecclesiam ob memoriam apostolorum principis, ita ut a majoribus nostris accepimus, quoad possumus, amplius quam Afri colamus; et seu se digna seu indigna prolatura sit, si status regnorum patitur, ab ea responsa petamus..’433 Der Widerstand richtet sich niemals gegen Rom, sondern immer gegen die Päpste, welche als Vorboten des Antichrist die Würde des apostolischen Stuhles herabsetzen; wie auch Gerbert schreibt: ‘Sevit ipsa, quae solatio debuit esse Roma’434.
Nicht nur den französischen Bischöfen, sondern auch dem mächtigen Erzbischof von Mainz gegenüber435 behauptete sich stets die Autorität des Papsttums, obwohl man dafür doch schwerlich einen materiellen Grund anführen könnte; nationalstaatlich’ gesehen, wäre es ja durchaus dem Archiepiskopat förderlich gewesen, wenn es sich, wenigstens organisatorisch, von Rom hätte lossagen können. Im März 975 aber lässt Willigis von Mainz, genau so wie seine Vorgänger Friedrich und Wilhelm436, den Vorrang des Papsstums von dem Papst autorisieren mit folgenden Worten: ‘Pallii... usum, quem.... a sede apostolica, sicut decuit, proposuisti, libenter fraternitati tue concessimus. Atque illud tibi transmittimus, quo eo ita uti memineris, sicut predecessores nostri tuis predecessoribus concesserunt, servata dumtaxat privilegiorum tuorum integritate, que in Germania et Gallia post summum culmen pontificis in omnibus ecclesiasti-
cis negotiis... preemineas’437. Die päpstliche Autorität ist nicht abhängig von den Machtverhältnissen des Augenblickes, sie hat ihre Wurzeln in dem Glauben an die Superiorität der Kirche des heiligen Petrus, den sogar der erbittertste Gegner nicht zu beleidigen wagt.
Das Nationalbewusstsein dagegen ist in den Tagen Ottos III. fast völlig instinktiver Natur. Die Bezeichnungen der Länder und Völker schwanken438. Gelegentlich wird die ‘nationale’ Gruppe durch die Autoren herangezogen; Einheit der Auffassung ist darin aber nicht zu spüren. Im allgemeinen ist die Rede von einer Stammesbezeichnung (Saxones, Longobardi u.s.w.), der keine ‘staatliche’ Bedeutung zugeschrieben werden kann. Der Ausdruck ‘Theutones’ oder ‘Theodisci’ für die gesamten deutschredenden Stämme findet sich bei Brun von Querfurt439 und Thankmar440, ohne dass dieser Name eingebürgert gewesen zu sein scheint; wenigstens bei Thietmar, der nicht unter italienischen Einflüssen gestanden hat441, fehlt eine Bezeichnung für das deutsche Volk442, wie es bei Widukind der Fall war. Eine einheitliche Ordnung oder eine Fixierung der Grenzen lässt sich nicht ermitteln; das Stammesgefühl hat noch nicht den Gehalt des Staatlichen. Im Vergleich mit der unumstösslichen Sicherheit der Quellen
in Bezug auf die Grenzen des Göttlichen und Teuflischen, im Vergleich vor allem mit ihrem angeborenen Respekt vor den universalistischen Elementen der frühmittelalterlichen Welt, Kaisertum und Papsttum, beeinflussen ‘nationale’ Momente die Affektbetonung nur sehr selten443, und dann meist noch mittels eschatologischer oder augustinischer Vorstellungen.
Otto III. und sein Kreis haben versucht, die Realität der universalistischen Begriffe möglichst konsequent für ihre Politik auszunutzen. Die Zeitgenossen haben diesen Versuch beobachtet und an Kritik haben sie nicht gespart. Vorsicht ist hier aber dringend geboten; denn besonders hier gilt, dass man sich mit der Tatsache der Kritik nicht begnügen darf, sondern Begriffe begrifflich übersetzen muss. Ein entwickeltes Nationalbewusstsein war, wie wir oben bemerkten, nicht vorhanden; es wäre also gefährlich, die Kritik der Zeitgenossen schlechthin mit der nationaldeutschen Kritik eines Giesebrecht zu identifizieren. Das stellt sich besonders deutlich heraus bei einer Analyse der umständlichen Charakteristik, welche Brun von Querfurt in der ‘Vita Quinque Fratrum’444 von Otto III. gibt. Auch Brun wirft Otto vor, er habe ‘Germanien’ vernachlässigt445; die römische ‘renovatio’ betrachtet
er als die Verirrung eines guten Kaisers446; ‘nam cum sola Roma ei placeret, et ante omnes Romanum populum pecunia et honore dilexisset, ibi semper stare, hanc renovare ad decorem secundum pristinam dignitatem ioco puerili in cassum cogitavit.... Inveteratae Romae mortuum decorem renovare supervacuo labore insistit’. Man würde aber fehlgreifen, wenn man die Abneigung Bruns gegen die römische Politik als Symptom einer ‘nationalen’ Gesinnung auffasste; der spätere Märtyrer, dem die Liebe für Germanien nur Mittel war, teilt seine Motive selbst mit. ‘(Otto) cum plura bona fecisset, hac in parte erravit ut homo, quia oblitus est Dominum dicentem: “Mihi vindictam, et ego retribuam”, non dedit honorem Deo et, qui clavem gerit alti caeli, eius precioso apostolo Petro, secundum illud: “Honora dominum tuum sanctum, Israel”... Cuius cives quamvis sibi pro bonis mala fecissent, ipsa Roma tamen a Deo datum apostolorum domicilium erat’447. Man findet hier die Ursache der Missbilligung Bruns; er behauptet, Otto habe sich durch seine unerlaubte Liebe für Rom, durch seine Anwesenheit in Rom überhaupt, vergriffen an dem domicilium der beiden Apostel, Petrus und Paulus; er habe, infolgedessen, durch seine Ablehnung der konstantinischen Schenkung Gott und Petrus beleidigt. Brun nennt die Schenkung nicht; dass er aber an ihrer Echtheit nicht zweifelt, und ihre Tendenz gekannt haben muss, geht aus diesem Text unbedingt hervor448; wie hätte er sonst Otto den Aufenthalt in Rom aus diesen Gründen vorwerfen können?449 Ausserdem passt
diese Ansicht sehr gut zu dem Massstab, nach dem Brun Otto beurteilt450 und zu seinem ungünstigen Urteil über Leo von Vercelli, der dominierenden Figur der römischen Politik451. Für Brun liegt der Schwerpunkt des Fehltritts in einer Kränkung der apostolischen Würde, die nach ihm durch die Form der Renovationspolitik Ottos beleidigt und geschädigt wurde.
Brun von Querfurt ist nur ein Beispiel dafür, wie verwickelt das Problem der Missbilligung ist, weil die Normen des Urteils grundsätzlich von den unsrigen verschieden sind. Auch das Bedenken Thietmars z.B. weist darauf hin, dass nicht der Universalismus als solcher, sondern die besondere Auffassung von diesem Universalismus ihm nicht gefällt. Dass er einen Widerwillen gegen Rom und die Römer hat452 ist nicht der Grund seiner Beschwerde. ‘Imperator antiquam Romanorum consuetudinem iam ex parte deletam suis cupiens renovare temporibus, multa faciebat, quae diversi diverse sentiebant. Solus ad mensam quasi semicirculus factam loco caeteris eminenciori sedebat’453. Was ihn nicht hindert, zu sagen: ‘Acquirat animae istius (Otto) veniam cum lacrimis, quicumque sit professione fidelis Deo, quod is nostram renovare studuit aecclesiam conatu mentis summo’454. Thietmar unterscheidet hier offenbar eine ‘renovatio antiquae Romanorum consuetudinis’, die er ungünstig, und eine ‘renovatio nostrae ecclesiae’, die er günstig beurteilt; der Fehler Ottos scheint wieder die Form der renovatio zu sein.
Eine ähnliche Unterscheidung macht der (spätere) Autor der ‘Gesta Episcoporum Cameracensium’, der folgendes schreibt: ‘Et (imperator) sicuti iuvenis, tam viribus audax quam genere potens, magnum quiddam, immo et impossibile oogitans, virtutem Romani imperii ad potentiam veterum regum attollere conabatur. Mores etiam aecclesiasticos, quos avaricia Romanorum pravis commercationum usibus viciabant, ad normam prioris gratiae reformare estimabat’455. In beiden Fällen wird eine ‘ecclesiastische’ Reformation neben einer ‘römischen’ angegeben.
Es bleibt also jetzt noch die Frage zu beantworten: welchen Widerspruch haben die Zeitgenossen in der Renovationspolitik Ottos III. entdeckt? Weshalb haben sie die ‘renovatio ecclesiae’ im allgemeinen als eine Tugend, die ‘renovatio imperii Romanorum’ dagegen als einen Fehler betrachtet? Wenn also weder ‘skeptische’ noch ‘nationalistische’ Motive im Spiel gewesen sein können, welche Erwägungen haben sich dann geltend gemacht?
Noch ein Argument, das einen Byzantinismus am Hofe zu beweisen scheint, soll hier näher betrachtet werden. Wie wir gesehen haben, war die ‘renovatio imperii Romanorum’ im Kreise Gerberts und Leos von Vercelli ein feststehender Programmpunkt. Die Ansichten Wilmans' und Giesebrechts über ‘Ottos phantastische Pläne’ können schon deshalb nicht länger in Schutz genommen werden; in den Grundgedanken dieser Pläne war ja nichts, das nicht mit den Plänen seiner Vorgänger in Einklang gebracht werden konnte, und auch die praktische Anwendung ist in den wenigen Jahren der Selbständigkeit Ottos überall zu spüren. Giesebrecht glaubte aber mehrere Belege für den unmännlichen und unpraktischen Charakter des Kaisers und für die Unwesentlichkeit der ‘renovatio’ anführen zu können. Man findet
bei ihm eine ausführliche Beschreibung eines byzantinischen Zeremoniells, mit dem Otto sich umgeben haben soll; seiner Darstellung nach schuf er neue und völlig phantastische Aemter, entfaltete er eine orientalische Pracht, versuchte er den päpstlichen Apparat der iudices palatini zu einem kaiserlichen Institut umzubilden; kurz, nach Giesebrecht456 hat Otto sich während der nichtigen Zeit seines römischen Aufenthaltes einer sybaritischen Spielerei ergeben, welche fast unglaubhaft mit der fieberhaften Aktivität seiner Politik und seiner Hinneigung zur Askese kontrastieren würde. ‘Wäre es Otto gelungen, seine Absichten durchzusetzen’, schreibt Giesebrecht, ‘so wäre in der Tat aus dem deutschen Kaisertum ein römisches nach dem Muster des byzantinischen geworden....’457 ‘Der sächsische Hof ist wie zu einem Maskenfest aufgeputzt, und schnell gleich der Fastnachtsluft verrauschte die ganze Herrlichkeit wieder’458. Auch Gregorovius, der Geschichtsschreiber der Stadt Rom, widmet diesem kaiserlichen Luxus eine sehr eingehende Schilderung459.
Nirgends aber tritt die a priori gegebene Ueberzeugung des deutschen Historikers klarer ans Licht, wie in dieser Beschreibung des Hofes; denn das Quellenmaterial, aus dem sie entnommen, hält der Kritik nicht Stand; sie ist nur dann der Umgebung Ottos III. als Realität zuzuschreiben, wenn man im voraus an seinen Byzantinismus glaubt. Die Belege für sein byzantinisches Zeremoniell bilden nämlich erstens die in einem entstellten Manuskript aus dem XIV. Jahrhundert überlieferte ‘Graphia aureae urbis Romae’460
und zweitens das sog. ‘Richterverzeichnis’, das u.a. bei Bonizo von Sutri (zweite Hälfte des XI. Jahrh.) vorkommt461 und Aehnlichkeit mit einer Liste der Palatialrichter aus der Graphia zeigt. Die Graphia ist eine Kompilation, die als Einleitung legendarische Geschichten aus der Urzeit Roms, weiter eine Beschreibung der Stadt, drittens eine zusammengewürfelte Beschreibung des oben genannten Zeremoniells enthält. In dieser Form kann die Kompilation nicht vor 1154 entstanden sein462; dass in ihr ältere Teile verarbeitet sind, kann aber nicht bezweifelt werden; namentlich der letzte Teil, der das sonderbare Zeremoniell zum Gegenstand hat und den man, fragmentarisch, in anderen Manuskripten wiederfindet463, wird aus verschiedenen Gründen der Zeit Ottos III. zugeschrieben464. Die zweite Quelle, die ‘Notitia’ oder das Richterverzeichnis, eine Klassifizierung der Richter (iudices palatii, consules, pedanei), ist von Keller sehr scharfsinnig analysiert worden465; er suchte festzustellen, dass die Notitia in der bei Bonizo vorliegenden Form durch Zusätze dieses Autors und eines Ravennaten (zwischen den Jahren 1010 und 1030) vermehrt wurde; der Kern wäre das eigentliche ‘Verzeichnis der römischen Richter’, das die sieben Palatialrichter in Rom betrifft, und stamme wie die Graphia,
die ja auch eine ähnliche Liste der Palatialrichter mitteilt, aus der Zeit Ottos III. Wenn also wirklich das Zeremoniell der Graphia und das Richterverzeichnis die Hofhaltung und die Gerichtsverfassung Ottos III. repräsentieren, wären in diesen Dokumenten äusserst wichtige Beiträge zur Kenntnis dieser Periode vorhanden.
Wie ist es aber um die Datierung und die Glaubwürdigkeit dieser nach Giesebrecht zweifellos der Zeit Ottos angehörigen Zeugnisse bestellt? Erstens ist es sehr auffallend, dass, wie Halphen durchaus mit Recht bemerkt hat466, die Zeitgenossen über die Komödie am römischen Hofe nichts zu berichten wissen. Die italienischen Chronisten schweigen sogar gänzlich; die Geschichtsschreiber des Nordens, wie Thietmar467, Brun von Querfurt468, der Autor der ‘Gesta Episcoporum Cameracensium’469 und Thankmar470 beschränken sich auf allgemeine Hinweise, welche nur die Wiederherstellung des römischen Reiches und die Bevorzugung der Italiener betreffen. Ueber einen phantastischen Hofstaat fehlt jede Nachricht471. Ausserdem ist die Periode, in der Otto in Rom weilte, keine geschlossene und regelmässige, sondern eine fortwährend durch Reisen im Reich unterbrochene Zeit472 welche schwerlich für die Anordnung einer so detaillierten und formalistischen Etiquette benützt sein kann.
Dass die Quellen uns hier völlig im Stich lassen, ist also
an sich schon befremdend. Dazu kommt aber die sehr problematische Datierung der Graphia und des Richterverzeichnisses. Letzteres wird nur deshalb der Regierungsperiode Ottos III. zugeschrieben, weil es sich inhaltlich mit dem Richterfragment aus der Graphia berührt; seine Angaben sind, nach Keller473, übrigens so unbestimmt, dass es ebensowohl der Zeit Karls des Grossen angehören könnte. Es kommt also nur darauf an, inwiefern die Graphia mit dem römischen Aufenthalt Ottos zusammenhängt.
Die Gründe der Datierung sind hauptsächlich diese, dass der Autor nach dem Bau der ‘civitas Leonina’ (852) geschrieben hat474, und dass der Text einen in Rom residierenden Kaiser voraussetzt475. Weil Otto III. der einzige Kaiser ist, der sich hier wenigstens während einer kurzen Zeit stationär aufgehalten hat, so liegt nach Giesebrecht und ebenfalls nach Keller die Vermutung auf der Hand, dass das in der Graphia geschilderte Zeremoniell mit seiner Regierung in Verbindung gebracht werden muss. Andererseits aber soll hier zugleich bemerkt werden, dass jeder direkte Hinweis fehlt. Obendrein ist der Inhalt verwirrt und voller Widersprüche. Ganze Stücke sind buchstäblich aus den ‘Origines’ Isidors von Sevilla kopiert worden, wie u.a. die Kapitel ‘De scena et orchistra’ und ‘De Offitiis scene’; was über die Eunuchen erzählt wird, kann mit den Verhältnissen unter Otto III. unmöglich etwas zu tun haben476. Die Methode der Kompilation ist also sehr ungeschickt
und bestärkt uns nicht in der Glaubwürdigkeit der Schrift, im Gegenteil, sie lässt vermuten, dass der Kompilator gar nicht die Absicht hatte, eine historische Realität zu schildern! Der Passus über die zehn Kronen des Kaisers kann auf den uns bekannten Otto wieder nicht bezogen werden, weil doch sicherlich Thietmar, der schon an einer ‘mènsa quasi semicirculus facta’ Anstoss nimmt, darüber berichtet haben würde. Wenn von der Kleidung des Imperators gesagt wird; ‘In medio vero rote sit sculptum triforio thema orbis: Asia, Africa, Europa’, so stimmt das nicht nur kaum zu der Nachricht der Mirac. S. Alexii477 sondern ebensowenig zu der ‘ecclesiastischen’ Politik Ottos, die sich mit Africa als wesentlichem Element nie beschäftigt hat. Das Hofzeremoniell des Kaisers, wie es in der Graphia beschrieben wird, ist fast völlig heidnisch; wie wäre es von dem ‘augustinischen’ Otto, aus dessen nächster Umgebung eine genaue Abgrenzung der kaiserlichen und päpstlichen Befugnisse, in den ‘Versus de Ottone augusto et Gregorio papa’, bekannt ist, zu erwarten, dass er seine Hofhaltung eingerichtet hätte nach dem Satz der Graphia: ‘Solus imperator est, qui post Dominum omnium obtinet potestatem, et omnium iura legesque dispensat, et omnium moderatur habenas, et qui ab omnium usque ad terram est salutandus’?478.
Fehler auf die geringe Kenntnis des Autors zurückzuführen, um in dieser Weise den historischen Kern seiner Aufzeichnungen zu erhalten. Wie unwahrscheinlich an und für sich eine solche Unwissenheit, eben bei einem römischen Zeitgenossen schon sein mag, die Argumente, welche Halphen gegen die Zuverlässigkeit der Graphia anführt481, sind für ihren Wert als Geschichtsquelle wohl entscheidend. Wir verzeichneten bereits, dass die übrigen Quellen von einem grotesken Hofzeremoniell überhaupt nichts wissen. Ausserdem aber ist von der wichtigen Umbildung des Richterkollegiums, welche die Graphia mitteilt, in den Diplomen oder der sonstigen Literatur keine Spur aufzudecken! Der Titel ‘primicerius sancte Romane ecclesie, proto a secretis ac proto vestiarius Ottonis regis’, den, übrigens schon 991482, Johannes Philagathos sich beilegt, beweist nichts483. Allein sonnenklar zeigen zwei Diplome aus dem April 998 und Dezember 999484, dass die Neuordnung der Befugnisse im Sinn der Graphia nicht stattgefunden hat, dass die Vertreter des Kaisers auch in der Zeit der sog. ‘phantastischen Pläne’
gesondert neben den päpstlichen Richtern vorkommen485. Damit ist die historische Beweiskraft der in der Graphia erwähnten Tatsachen schon äusserst zweifelhaft geworden; wir glauben demnach der von Halphen verfochtenen Ansicht bezüglich des phantastischen Charakters dieser Schrift völlig beistimmen zu dürfen486. Sie ist eine systemlose Kompilation, ohne Rücksicht auf die Realität als Zeremonialbuch aufgesetzt und aus den verschiedensten Quellen zusammengestellt, die als solche über die Hofhaltung Ottos III. keinen, Aufschluss gibt.
Vergleicht man jetzt die von dem ‘Ravennaten’ vermehrte ‘Notitia’ mit der Liste der iudices aus der Graphia, so ergibt sich eine wichtige Differenz zwischen den beiden Verzeichnissen. Beide stimmen darin überein, dass sie die Aemter der iudices auf Kaiser und Papst beziehen mit dem Unterschied aber, dass die ‘Notitia’ dem Anschein nach exakte Tatsachen über den päpstlichen Hof mitteilt, während die Graphia die Richter nur als Beamte des Kaisers kennzeichnet. Diesen Unterschied sucht Keller nur in den Persönlichkeiten der Autoren487, u.E. mit Unrecht; er ist vielmehr in den verschiedenen Datierungen der Listen zu finden. Den einzigen Grund, den Keller für die Datierung der ‘Notitia’ auf die Zeit Ottos III. angibt, ist ihre inhaltliche Aehnlichkeit mit der Graphia488. Da aber die historische Glaubwürdigkeit der Graphia und folglich die Wahrscheinlichkeit, dass sie reale Vorgänge beschreibt, durchaus als ungewiss angesehen werden musste, ist es
annehmbar, dass in der exakteren ‘Notitia’ eine ältere Quelle vorliegt, welche der Autor der Graphia nach seiner Art umgearbeitet hat. Die ‘Notitia’ weist nämlich nur die Anwesenheit eines Imperatoren auf; dass dieser Imperator Otto III. gewesen ist, wird durch nichts bezeugt, ist sogar im höchsten Grade unwahrscheinlich, weil, wie wir zeigen werden, eben die Bearbeitung der Liste in der Graphia die Zeit Ottos III. verrät. Kann nicht vielmehr, wenn auch der entscheidende Beweis fehlt, an Otto I. gedacht werden, der sich ja fünf Jahre hintereinander in Italien und häufig in Rom aufhielt, und von dem wir wissen, dass er die kaiserliche Macht streng ausgeübt hat? Nichts verbietet uns, die iudices palatini schon in der Zeit Ottos I. anzusetzen, weil ihre Anwesenheit für die Periode seiner Regierung genügsam verbürgt ist489.
Für unseren Gegenstand ist es hauptsächlich wichtig, dass die in der Graphia überlieferte Liste der iudices zweifellos die mit Absicht unternommene Bearbeitung der ‘Notitia’ bildet490. Wie schon gesagt, sind die iudices in der Graphia lediglich als kaiserliche Beambte dargestellt, während sie in der ‘Notitia’ noch überwiegend der päpstlichen Machtsphäre angehören; weiter aber werden die Aemter der Graphia, nach dem Modell der Ἔϰϑεσις τῆς βασιλείου τάξεως des Constantinus Porphyrogenetus491 nachdrücklich mit byzantinischen Aemtern verglichen492, während die ‘Notitia’
sich einfach auf den Inhalt der Befugnisse beschränkt. Dass hier eine Bearbeitung nach byzantinischem Muster, aber gleichfalls in ‘römischem’ Sinne, stattgefunden hat, ist leicht ersichtlich; sowohl das Richterfragment wie die Formeln ‘Qualiter patricius sit faciendus’ ‘Qualiter iudex constituendus sit’, ‘Qualiter romanus fieri debeat’, bilden gewissermassen das ‘römische’ Gegenstück zur Ἒϰϑεσις des Constantinus Porphyrogenetus. Das Vorkommen des ‘protospatharius’493, die universelle Bedeutung, welche den übrigens rein lokalen Aemtern des patricius494 und des iudex beigelegt wird, vor allem aber der deutliche Versuch des Autors, für die byzantinischen Aemter in den Funktionen der Richter und des Patricius Aequivalente zu finden, machen es wahrscheinlich, dass diese Fragmente in der von der Graphia überlieferten Form aus der Umgebung Ottos III. stammen. Zufällig können wir unsere Meinung, dass die betreffenden Graphiafragmente Bearbeitungen einer älteren Redaktion sind, noch bestätigt finden in der von Keller in einer Handschrift der ‘Gesta pauperis scolaris Albini’ (die auch das Richterfragment enthält) entdeckten Notiz495, die ungefähr übereinstimmt mit der Formel ‘qualiter iudex constituendus sit’ aus der Graphia, nur dass hier der Papst als Promotor genannt wird.
Wenn das Richterfragment und die Konstitutionsformeln
also wirklich der Periode Ottos III. angehören, so fragt sich, in welchem Verhältnis sie zu den politisch leitenden Männern, wie Gerbert und Leo von Vercelli, gestanden haben. Wir sahen bereits, dass weder die Umbildung des Kollegiums der Palatialrichter, noch die praktische Verwendung der Formeln durch geschichtliche Tatsachen bezeugt werden, dass vielmehr alle zuverlässigen Angaben einer Realisierung widersprechen. Die Reform ist hier offenbar Programmpunkt geblieben. Es ist abermals der Text des Constitutum Constantini, der die Erklärung für die Absicht dieser Programmpunkte liefert. ‘Konstantin’ überträgt den Päpsten das palatium Lateranense nebst den Gewändern und Insignien des Kaisertums, wie das Phrygium und das Lorum496. Er fährt fort: ‘Viris enim reverentissimis, clericis diversis ordinibus eidem sacrosanctae Romanae ecclesiae servientibus, illud culmen, singularitatem, potentiam et praecellentiam habere sancimus, cuius amplissimus noster senatus videtur gloria adornari, id est patricios atque consules effici, nec non et ceteris dignitatibus imperialibus eos promulgantes decorari’497. Man braucht sich kaum zu fragen, welcher Gegensatz zu dem Standpunkte der Politiker Ottos III. hier gegeben ist! Das Imperium verzichtet auf sein besonderes Machtgebiet in der Ecclesia; dem Klerus wird vergönnt, Patriziat und Konsulat zu erlangen und, wie die Fälschung weiter sagt, die äusserlichen Zeichen dieser Würden zu tragen498. Kein Privilegium bleibt dem Imperium vorbehalten; seine Stellung zeichnet sich nicht länger durch umschriebene Grenzen aus, weil auch das Sacerdotium sich mit ‘weltlichen’ Attributen ausstatten darf. Gegen diese Anmassung hat, wie wir ausgeführt haben499, der Kreis der Politiker
um Otto III. in der bekannten Schenkung der Grafschaften energisch Einspruch erhoben; ‘spretis commenticiis preceptis’ verleiht das Imperium dem Papst nur als persönliche Gabe die ‘weltlichen’ Güter. Dementsprechend begegnet uns in der Tendenz der von Otto, wenigstens theoretisch, geschaffenen Aemter eine gegen die konstantinische Schenkung gerichtete Politik. Das sächsische Imperium, abhängig von seinem Zentrum Rom, musste schon notgedrungen auf seinen ‘weltlichen’ Rechten bestehen; von dieser Notwendigkeit ist das Konzept einer Reform des Richterkollegiums, wie es in der Graphia vorliegt, ein merkwürdiges Beispiel. Der Kaiser erscheint als der ‘weltliche’ Herr; und das sichtlich als der Rivale des Basileus, mit dessen Hofhaltung die iudices übereinstimmen; zwei Beamte, Bibliothecarius und Referendarius, werden hinzugefügt. In den Konstitutionsformeln ist es ebenfalls der Kaiser, der dem patricius und dem iudex ihre Macht verleiht. Es kann nicht bezweifelt werden, dass dieser Umsturz aller bisherigen Tradition mit der scharfen Ablehnung des Constitutum Constantini zusammenhängt; war doch eben in dem Kollegium der Palatial-richter die zweifelhafte Grenze gegeben500, die Otto, im Gegensatz zu ‘Konstantin’, zu Gunsten des Imperiums zu verschieben geneigt war.
Wie in der Schenkung der Grafschaften haben wir in diesen Bruchstücken der Graphia also Programmpunkte zu sehen, welche die Politik Ottos III. charakterisieren.. in ihren Absichten, nicht, wie Giesebrecht annahm, in ihrem Resultat. Die weiteren Beziehungen der Graphia zur Umgebung Ottos lassen sich nicht feststellen; möglicherweise enthält sie mehrere Reminiszenzen an ein von Otto geplantes Zeremoniell, die aber so sehr mit anderen Fragmenten, (deren Herkunft teilweise noch nachweisbar ist, teilweise sich
der Forschung entzieht), vermischt wurden, dass von einer glaubwürdigen Ueberlieferung nicht gesprochen werden kann. So bleibt aus der Graphia als einziges wichtiges Ergebnis für die Regierung Ottos III. ein politisches Konzept, das genau zu unseren Ansichten über die Richtlinien seiner Diplomatie stimmt. Otto beabsichtigte die Umbildung der römisch-städtischen Aemter nach dem Muster des byzantinischen Hofes, aber mit der ausgesprochen ‘römischen’ Tendenz, die auch in seiner Gleichstellungspolitik vorherrscht. Das bedeutet keineswegs einen Eingriff in die traditionelle Kaiserpolitik, wie die urkundlich erhaltenen Titel wie ‘praefectus navalis’501 und ‘logotheta’502 zeigen, die man unter seinen Nachfolgern wiederfindet; sie drücken formal die dauernde Rivalität aus, welche zwischen Okzident und Orient bestand.
Ob man in der Umgebung Ottos die Herstellung eines der Ἔϰϑεσις des Constantinus Porphyrogenetus ähnlichen, okzidentalisch gefärbten Zeremonialbuches versucht hat, muss dahingestellt bleiben; keinesfalls aber ist die verwirrte und zweifellos später kompilierte Graphia, welche von Giesebrecht mit Unrecht als Hauptbeleg für eine Byzantinisierung des ottonischen Hofes herangezogen wurde, davon das Abbild. Der ‘Byzantinismus’ Ottos III. ist keine krankhafte, im Rausch der Romantik entstandene Laune, sondern die bewusste Ausnutzung byzantinischer Elemente für den Aufbau einer überlegten Gleichstellungspolitik, die er in seinem allzu kurzen Leben nicht zu realisieren vermochte.
Wir haben jetzt der S. 182 gestellten Frage: Welchen Widerspruch haben die Zeitgenossen in der Renovationspolitik Ottos III. entdeckt? näher zu treten. Denn auch den
Prunk einer pompösen Hofhaltung, über die sie ja überhaupt keine Nachrichten bringen, haben sie ihm nicht vorgeworfen; offenbar handelt es sich hier um ganz andere Werte. Wir verweisen in diesem Zusammenhang noch einmal auf die im zweiten Kapitel angeführten Bedingungen des frühmittelalterlichen Urteils, und besonders auf den Passus, den wir dem ‘rex iniquus’ gewidmet haben503. Ebenda stellten wir fest, dass die psychologische Stellungnahme des frühmittelalterlichen Menschen bei der Beurteilung eines Herrschers abhängig ist von den Kausalbeziehungen, die aus dem germanisch-augustinischen Ideal der ‘pax’ hergeleitet werden. Die Wertschätzung der Persönlichkeit bei einem Autor dieses Jahrhunderts ist demnach nicht als Kritik ohne weiteres, d.h. als Kritik nach heutigen psychologischen Normen aufzufassen, sondern sie ist vor allem auf ihren Gehalt an Zeitanschauungen zu prüfen. Erst wenn sich herausgestellt hat, welche ‘augustinischen’504 Qualitäten der Autor seinem Objekt zuschreibt, ist es mittels einer psychologischen Transposition möglich, sich auf seine Würdigung nach der heutigen begrifflichen Terminologie näher einzulassen.
Bei der Transposition der Urteils über Otto III. ist es gleichfalls äusserst wichtig, das Prinzip der ‘augustinischen’ Kausalität festzuhalten. Die Missbilligung der zeitgenössischen Autoren darf man ja nicht mit unseren Kriterien messen, bevor man sich davon überzeugt hat, ob die Missbilligung konform der unsrigen beurteilt werden darf. In seinem ganzen Umfang gilt für Otto das Kriterium rex justus-rex iniquus, das Denkgrenze und Werturteil zugleich ist; d.h. die Qualitäten des ‘imperator felix’ und des ‘rex iniquus’ sind ausschlaggebend und bestimmen in ihren Variationen
die kritische Wertung. Daraus ergibt sich, dass häufig Ereignisse in der Sphäre des Materiellen, wie Krieg, Empörung, Viehseuche, durch die Geschichtsschreiber der Zeit unmittelbar, kausal, mit der Regierung des Kaisers verbunden werden, während sich dagegen Tatsachen aus dem Gebiete des Seelenlebens, wie Ottos asketische Neigungen, keineswegs dem Schema unserer psychologischen Kausalität fügen505. Kurz, die Bewertung der politischen und sozialen Bedeutung Ottos III. in der Darstellung der Zeitgenossen muss eine Transposition erfahren, bevor sie unserem Werturteil zugänglich sein kann. Die Gesichtspunkte der Zeitgenossen sind zu erörtern; nachher ist ihre Bedeutung, als Bedeutung im modernen Sinne, zu untersuchen.
Wie Bagemihl in seiner schon genannten Dissertation ausgeführt hat506, betrachtet Thietmar, dessen Urteil über Otto III. vielfach herangezogen wird, die Periode Ottos II. und seines Sohnes als eine aetas ferrea, welche erst durch den rex Justus, Heinrich II., abgeschlossen wird; nach diesem Friedenskaiser wird der Antichrist auf Erden erscheinen507. Otto III. ist also in seinen Augen der auf Teufelswege geratene Herrscher, der ursprünglich zum Guten geneigt war; infolgedessen ist die Kritik Thietmars über die Regierung Ottos nach unseren Normen ‘unsicher’. Einerseits wird der junge Kaiser gepriesen, weil er ‘imperium illud priorum suorum more gubernavit, etatem moribus industriaque vincens’508, andererseits wird ihm vorgeworfen, er sei seiner Grossmutter Adelheid unfreundlich begegnet509; einerseits rühmt der
Chronist seine Bussfertigkeit510 und missbilligt die Römer, die sich seiner Herrschaft widersetzen511, andererseits zweifelt er an der Rechtmässigkeit der Gründung des Erzbistums Gnesen512 und der ‘renovatio aritiquae Romanorum consuetudinis’513. Nach den heutigen psychologischen Kriterien sind diese Angaben kaum miteinander in Uebereinstimmung zu bringen; beachtet man aber, dass der ‘Charakter’ in der Analyse Thietmars nicht eine in sich geschlossene und aus immanenten Bedingungen sich entwicklende Grösse, sondern gewissermassen ein zwischen Gott und Teufel hin und her schwebender Körper ist, so lassen sich die scheinbaren Widersprüche aus dem Grundgedanken der ‘augustinischen’ Psychologie doch leicht erklären. Während der aetas ferrea versucht Satan die Gotteskinder zu verführen; sein Wirken offenbart sich ja nicht nur in den Naturerscheinungen, sondern auch in den Empörungen des Bayernherzogs Heinrich, der Slaven und der Römer514, in der Verirrung der Seelen also. Die Persönlichkeit des Kaisers entzieht sich diesen Verführungen nicht; man könnte sagen, dass in dem Schicksal Ottos für Thietmar etwas von der Notwendigkeit liegt, die einen Kometen als Unheil verkündendes Vorzeichen erscheinen lässt; die Abwege des ‘rex iniquus’ sind unabwendbare Merkmale der aetas ferrea, wie die Naturereignisse es sind. Otto wird nach den Anschauungen Thietmars vom Teufel überlistet; seine guten Absichten sollen gelobt werden, ‘quod is nostram renovare
studuit aecclesiam conatu mentis summo’515; der Macht Satans, die sich während der aetas ferrea überall verbreitet, ist er aber nicht gewachsen. Thietmar lässt durchscheinen, dass er das Benehmen Ottos Adelheid gegenüber516, die ‘römische’ Politik, die Gründung des Erzbistums Gnesen, als ein vom Teufel angestiftetes Unheil ansieht. Es ist exemplarisch für die Zeitanschauungen, dass dadurch in seinem Porträt die gute Veranlagung des Kaisers nicht beeinträchtigt wird; Otto ist einfach nicht imstande gewesen, alle die Eigenschaften des ‘rex justus’, welche Pseudo-Cyprian aufzählt, zu entfalten, weil Satan ihm entgegenarbeitete. Der ‘Charakter’ Ottos III. ist bei Thietmar und seinen Zeitgenossen nicht ein Ich mit einer immanenten Verantwortlichkeit, sondern die Selbstverteidigung einer Seele gegen die transzendentale Macht des Bösen517.
Genau wie Thietmar kennzeichnen die Hildesheimer, die Quedlinburger518 und die Magdeburger Annalen519 die Periode Ottos III. als eine aetas ferrea. Die Hildesheimer Annalen betrachten besonders den Besuch Ottos am Grabe Karls des Grossen als eine von Gott durch den frühen Tod des Kaisers gerächte Sünde520; die Quedlinburger Annalen rühmen fast ausschliesslich die Persönlichkeit
Ottos521, schildern dagegen mit um so grelleren Farben seine Regierungsperiode als ein eisernes Zeitalter. Weit charakteristischer aber ist das schon zitierte Urteil Bruns von Querfurt, das als ein Muster der ‘augustinischen’ Psychologie bezeichnet werden kann522. Auch er sieht die letzten Ottonen im Zeichen der Teufelsherrschaft. In auffallender Weise und sogar mit denselben Worten523 behauptet er, Otto II. und Otto III. seien nicht unter einem glücklichen Stern geboren. Die beiden Kaiser, obgleich sie häufig das Gute gewollt haben, seien vom rechten Wege abgeirrt524; in der Aufhebung des Bistums Merseburg findet Brun die Sünde bestätigt525. Ausführlich verweilt er, wie wir schon im Zusammenhang mit der konstantinischen Fälschung gesehen haben, in seiner ‘Vita Quinque Fratrum’526 bei Ottos ‘römischer’ Politik, die er in dem Satz: ‘Erat autem bonus caesar in non recto itinere’ als die Politik eines rex iniquus umschreibt. ‘Et dum via quam mundus dat festinat, quam autem Deo promisit, conversio tardat, contra honorem boni imperatoris et bonum differendo perdidit et malum, irritatus opere, sola cogitatione adimplevit’. Brun bedient sich also des nämlichen psychologischen Schemas wie Thietmar; er charakterisiert die Veranlagung Ottos als anfänglich guter
Natur, so dass er in einem besseren Zeitalter vielleicht ein ‘imperator felix’ nach pseudocyprianischem Modell hätte sein können; weil aber das Fleisch schwach war, begehrte er die ‘tria maxima bona, quorum unum ad salutem sufficit, monachicum habitum, heremum et martyrium’, ohne jedoch die Kraft zu besitzen, sie zu gewinnen. Brun bemerkt dazu: ‘... hoc seculum mente et amore non habitavit et in magno amore Dei, quasi non haberet hic manentem civitatem, futuram toto desiderio inquisivit’ und zitiert die Sibylle: ‘Rex in purpura natus ante portam civitatis in terra moritur non sua’.
Die Hauptquellen schildern also im allgemeinen, wie aus den obigen Zeilen hervorgeht, Otto III. als einen rex iniquus. Dass in dieser Schilderung weniger ein aktives als ein passives Verhalten der Persönlichkeit gegeben ist, dass der Mensch Otto nicht als der Verderber der Zeit, sondern als Opfer der Satansliste erscheint, glauben wir durch die vorstehenden Beispiele dargelegt zu haben. Man soll dabei nicht übersehen, dass örtliche und zeitliche Umstände, wie die Merseburger Frage und der unzeitige Tod Ottos diese eschatologisch gefärbten Charakteristiken mit veranlasst haben. Thietmar z.B. feiert Heinrich II. als rex justus, weil er sein geliebtes Bistum wiederhergestellt hat, während Cosmas Pragensis denselben König als rex iniquus darstellt!527 Rodulphus Glaber, der die Ottonenzeit als aetas ferrea kennzeichnet und um das Jahr 1000 das Weltende erwartete, konstatiert später eine neue aetas ferrea unter KonradII II.!528 Man sieht, dass das frühmittelalterliche Werturteil also gleichfalls in hohem Grade von dem Ort und der Zeit der Verfassung der betreffenden Geschichtsquelle abhängig ist.
Die wenigen Quellen, die Otto III. als imperator
felix betrachten, sind dieser psychologischen Bedingung gemäss in der Umgebung des Kaisers entstanden. Sie gehören im allgemeinen dem Kreis an, der bei Lebzeiten Ottos mit seiner ‘römischen’ Politik vertraut war und von ihr das Heil erwartete. Die Gedichte Leos von Vercelli schildern Otto als den Herrscher des goldenen Zeitalters; eine Periode des ‘Friedens’ wird in Aussicht gestellt, in der Kaiser und Papst in Rom zusammen die Welt regieren werden. So erscheint der Vertreter des Regnums in den ‘Versus de Gregorio papa et Ottone augusto’529 als der Beschützer der ‘pax’:
Sarazenen und Griechen werden sich vor dem christlichen Kaiser beugen, die Ecclesia wird jubeln können, weil das Reich der Finsternis verschwinden wird. Wie wir oben S. 148 ff. schon darzulegen suchten, ist diese eschatologische Fassung der Zustände mit den praktischen Problemen der ‘ecclesiastischen’ Politik eng verknüpft; die Eschatologie bildet auch hier die begriffliche Form der Politik.
Man hat hier besonders Leos ‘Versus de Ottone et Heinrico’ zu beachten, welche Dümmler, Bloch und von Winterfeld531 untersucht haben. Dieses Gedicht beginnt mit einer Totenklage um Otto III., die ursprünglich ein abgeschlossenes Ganzes bildete und nachher von Leo umgearbeitet wurde. Sie verrät sehr deutlich die absichtliche Analogie mit den ‘Versus de Gregorio papa et Ottone augusto’:
Die Totenklage um Otto III. muss sofort nach dem Tode des Kaisers geschrieben sein; sie verkündigt, dass jetzt der Weltuntergang nahe ist und der Antichrist entfesselt wird. Nach Leo ist die kommende Zeit die Frist, welche dem Endgericht vorangeht, und er malt sie mit den charakteristischen Zügen des eisernen Zeitalters533;
Und weiter:
Nach der Anschauung Leos von Vercelli ist Otto III. der imperator felix, der die aetas aurea abschliesst. Aeusserst bezeichnend für die Eschatologie als politisch-psychologisches Element der damaligen Weltanschauung ist aber die spätere Umkehr des Diplomaten, der ja auch unter Heinrich II. noch eine wichtige Rolle spielen sollte536; die angeführte Stelle arbeitet er nach der Sicherung des neuen Königtums folgendermassen um:
Das Weitere ist dann eine Verherrlichung Heinrichs II. als
imperator felix538, ein Gegenstück zu den ‘Versus de Gregorio papa et Ottone augusto’. Die Aenderung der Situation macht sich also in der Eschatologie bemerkbar; nicht länger fürchtet der Verfasser das Endgericht, eine neue aetas aurea steht bevor. Wie bei Rodulphus Glaber539, wird auch im letzten Gedicht Leos die Weltanschauung in ihren praktischen Konsequenzen umgestaltet. Das Beispiel zeigt, wie die Verhältnisse des politischen Lebens sich unmittelbar mit eschatologischen Komplexen assoziierten, dass die Eschatologie in ihren verschiedenen Variationen Form des Urteils war, dass die eschatologischen Erwartungen nicht gewissermassen ein Separatleben in den religiösen Schichten der Seele führten, sondern dass sie von der Terminologie des Urteils überhaupt untrennbar waren. Die eigentümliche Dehnbarkeit der ‘augustinischen’ Charakteristik erlaubt eine unerschöpfliche Anpassung, weil sie aus einer Wechselwirkung mit den Ereignissen hervorgeht540.
Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang auch das von Giesebrecht veröffentlichte Marialied541, das gleichfalls in der Umgebung Ottos III. entstand. Die nämliche eschatologische Ueberzeugung wie in der ursprünglichen Redaktion der ‘Versus de Ottone et Heinrico’ herrscht hier vor:
Die Schlussworte:
stellen Otto III. als rex justus dar; nach seiner Regierung erwartet der Autor, der vielleicht mit Leo identifiziert werden darf542, das Endgericht543.
Der ‘Modus Ottinc’544 liefert von Otto das vollständige Porträt des imperator felix, nachdem Otto II. unter Vorbehalt545 als ‘caesar justus’ skizziert worden ist:
Das Idealbildnis des christlichen Herrschers in seinen Verpflichtungen wäre kaum deutlicher anzugeben! Die ‘pax’ erscheint im ‘augustinischen’ Sinne, wie die Beifügung ‘in utroque tamen mitis’ zeigt. Otto erscheint als der rex justus, der niemals in Extreme verfällt, sondern die irdischen Güter im Dienst Gottes verwendet549.
Wir können jetzt feststellen, dass die augustinisch-eschatologischen Elemente im Urteil über Otto III. in zwei Gruppen zerfallen, auch in Bezug auf seine Politik. Die Gruppe, welche den Kaiser als rex iniquus schildert, fasst seine ‘römische’ Politik in engerem Sinne als eine Abirrung vom rechten Wege auf; dieser rechte Weg wäre nach Thietmar eine ‘renovatio ecclesiae’ ohne weltpolitische Tendenzen, nach Brun von Querfurt eine Erfüllung seines Mönchsgelübdes gewesen. Die Gruppe dagegen, welche Otto als imperator felix qualifiziert, erwartet eben von seinem Kaisertum die Wiederherstellung der Ecclesia als einer weltumfassenden Macht, und sieht in Rom das künftige ‘weltlich-geistliche’ Zentrum dieser Macht.
Allerdings sind hier also Faktoren im Spiel, die sich mit modernen Gegensätzen vergleichen lassen. Ist aber diese Gruppierung der Antithese ‘nationalistisch-universalistisch’ gleichzusetzen? Zweifellos nicht. ‘Nationalismus’ und ‘Universalismus’ bilden keine Gegensätze in einer Zeit, die sich der ‘Nation’ nur instinktiv bewusst ist550. Man kann das Urteil eines Thietmar als die Frucht einer Provinzpolitik bezeichnen; diese Provinz, nämlich das Bistum Merseburg, ist aber eine Provinz der ‘internationalen’ Ecclesia Dei, sodass der Autor die Interessen der Ecclesia vertreten kann,
obwohl er sie zugleich nach seinen Provinznormen ummodelt. Der Universalismus Thietmars ist der typische Universalismus der städtischen Chronisten im frühen Mittelalter: sein Lokalpatriotismus spricht nur durch die universalen Begriffe seiner Zeit. Andererseits ist die ‘universalistische’ Politik Gerberts und Leos von Vercelli wieder nicht frei von ähnlichen lokalen Einflüssen; sie ist ja nicht einmal denkbar ohne die Stadt Rom, die mit der Funktion des Imperiums unlöslich verbunden ist551. Die beide Anschauungen berühren sich in der Realität des Ecclesiabegriffes; nur ihre Stellungnahme zur Ecclesia ist verschieden, und diese bestimmt das Werturteil der Zeitgenossen über die Politik Ottos III. In den Mitteln der Renovationspolitik und in den Umständen der Beurteilung liegt der Anlass zur Meinungsverschiedenheit.
Erste Absicht dieser Untersuchung ist eine kritische Prüfung des Werturteils gewesen. Man wird der Politik Ottos III. doch nicht gerecht, wenn man, sei es theoretisch oder praktisch, die Identität des damaligen und heutigen Urteils voraussetzt; denn ‘identisch’ sind nur ganz allgemein die Wertungsbedürfnisse der Menschen und über Inhalt und Form der Wertung ist damit noch nichts gesagt. Man muss eine fast tausendjährige Entwicklung der Nationalstaaten und des Nationalgefühls, gleichfalls einen damit verbundenen Untergangsprozess des universalen Ecclesiagedankens übersehen, will man das ‘Romam caput mundi profitemur, Romanam ecclesiam matrem omnium ecclesiarum esse testamur’ als eine politische Fiktion erledigen; man muss die Kultur der Nationalstaaten, deren Vollendung und beginnende Auflösung in dem modernen Sozialismus das neunzehnte Jahrhundert gebracht hat, stark überschätzen, will man die nationalen Triebe als unwandelbare Formen der
Triebe überhaupt und als den Endzweck der historischen Entwicklung betrachten. Von einem solchen Standpunkte beobachtet, ist freilich der Universalismus der Ottonen, der in der Periode Ottos III. gipfelt, nicht mehr als der Ueberrest einer überwundenen Idee, die in der phantastischen Gebärde eines Jünglings zugrundegeht, und die Gruppierung der Tatsachen, wie wir sie oben versucht haben, bleibt unwesentlich. Erkennt man aber die Relativität unserer eigenen Gedankenformen an, so wird man nicht leugnen können, dass die Bezeichnung ‘phantastisch’ auf die Pläne dieses Kaisers schwerlich anwendbar ist.
Literatur dazu:
P. Kehr, Die Urkunden Ottos III. (Innsbruck 1890); ders., Zur Geschichte Ottos III (Hist. Zeitschr. 66, 1891, S. 385 ff.); Th.v. Sickel, Erläuterungen zu den Diplomen Ottos III. (Mitt. d. Inst. t. oesterr. Geschichtsf. XII, 2, 1891, S. 209 ff.); W. Erben, Excurse zu den Diplomen Ottos III. (Mitt. d. Inst. f. oesterr. Geschf. XIII, 4, 1892, S. 337 ff.); K. Uhlirz, Die Interventionen in den Urkunden des Königs Otto III. bis zum Tode der Kaiserin Theophanu (N. Arch. f. ält. deutsche Geschichtsk. XXI, 1896, S. 115 ff.) Vgl. die oben zitierten Schriften Frederichs und Müllers.
Mehrere drastische Beispiele der Funktionslokalisierung u.a. bei Thietmar; die Aufhebung des Bistums Merseburg z.B. ist eine dem Schutzheiligen angetane Schmach.
Auch wenn wir den Kern der Hartwigschen Ueberlieferung als historisch betrachten dürfen, können wir doch höchstens dies feststellen, dass Otto und Silvester in diesem besonderen Fall ihre ‘ecclesiastische’ Politik nicht verleugnet haben.