Rudolf G. Binding
aan
Menno ter Braak
8 januari 1934
8. Januar 1934
Herrn
Dr. Menno ter Braak
Den Haag
Pomonaplein 22
Sehr geehrter Herr ter Braak,
Ihr Brief vom 25. Dezember, der wegen eines Ausspanns um die Neujahrszeit nicht sofort seine Antwort gefunden hat, fordert doch noch einige Bemerkungen von mir heraus.
Wenn Sie sagen: Nietzsche wollte das vereinte Europa, so ist sehr zu fragen ob Nietzsche das vereinte Europa unter dem Vertrag von Versailles auch noch gewollt hätte - wenn er ein Deutscher war. Man ist immer ein guter Europäer so lange das Europa noch nicht Wirklichkeit hat das man anstrebt; aber man wird ein guter Nationalist wenn man die Nation genommen bekommt - wie uns geschehen ist.
Wenn Sie fragen: warum ich nicht protestiert habe wenn während einer Revolution verkannte oder missliebige Bücher verbrannt werden oder Juden ausgewiesen werden, so kommt mir das so vor als ob ich Sie fragen wollte warum eigentlich die geistige Blüte Frankreichs während der französischen Revolution nicht gegen die Hinrichtung einer unschuldigen Königin protestiert hat.
Wenn Sie dann ferner auf Nietzsche als Emigrant anspielen, so weiss ich nicht ob das sehr glücklich ist. Wir verstehen unter einem Deutschen einen Mann der sein land nicht verlässt.
Wenn Sie von eben diesem Nietzsche sagen: er zog Europa vor, Sils Maria, Genua - so darf ich wohl fragen: warum nicht Holland.
Sie haben die Eigenschaft immer nur alle die Dinge anzuführen die Ihnen passen. Unsere Laster sind die Tugenden die Sie nicht anerkennen. Wenn wir noch keine hohe Kultur haben als deutsche - was auf gewissen Gebieten richtig und auf gewissen Gebieten falsch ist - so müssen wir sie uns eben aus uns selbst schaffen. Aber Sie können uns nicht den Vorwurf machen, wir hätten die Verpflichtung uns hierbei nach Ihnen umzusehen. Ich erkenne Sie als Holländer und Europäer an. Ob das aber von Ihnen aus nicht ebenso für uns zu gelten hätte? Sodas also Sie Nietszche als Deutschen und-Europäer anzuerkennen hätten? Vielleicht hätte er das von Ihnen verlangt. Denn ich mache mir das Vergnügen Ihnen eine Stelle aus Nietsche preiszugeben den Sie doch so verehren. diese Stelle heisst:
‘Vielleicht kenne ich die Deutschen, vielleicht darf ich selbst ihnen ein paar Wahrheiten sagen. Das neue Deutschland stellt ein grosses Quantum vererbter und angeschulter Tüchtigkeit dar, so dass es den aufgehäuften Schatz von Kraft eine Zeitlang selbst verschwenderisch ausgeben darf. Es ist nicht eine hohe Kultur, die mit ihm Herr geworden, noch weniger ein delikater Geschmack, eine vornehme ‘Schönheit’ der Instinkte; aber männlichere Tugenden, als sonst ein Land Europas aufweisen kann. Viel guter Mut und Achtung vor sich selber, viel Sicherheit im Verkehr, in der gegenseitigkeit der Pflichten, viel Arbeitsamkeit, viel Ausdauer, - und eine angeerbte Mässigung, welche eher des Stachels als des Hemmschuhs bedarf. Ich füge hinzu, dass hier noch gehorcht wird, ohne dass das Gehorchen demütigt... Und niemand verachtet seinen Gegner...
Die Deutschen sind noch nichts, aber sie werden etwas.’
Blatt II, Herrn. Dr. Menno ter Braak
Sie sehen also, wie deutsch Nietzsche war, und ich füge Ihnen
hinzu: Es kommt heute weniger darauf an was deutsch ist - insofern darin auch manches Unbrauchbare, Ueberlebte, Wiederhervorgezogene und Misverstandene enthalten ist - als darauf was deutsch sein wird. Dies müssen Sie eben abwarten. Wir sagen ja auch nicht: Es sei echt französisch Königinnen hinzurichten, obgleich es in der Tat vorgekommen ist dass in Frankreich eine Königin hingerichtet wurde.
Und nun zum Schluss. Ich habe diesen Briefwechsel nicht mit Ihnen in meiner Sache geführt sondern in Ihrer. Denn bei der mangelhaften Kenntnis die Sie von meiner Tätigkeit in Deutschland und auch von meinem Werk haben konnte ich ja gar nicht in meiner Angelegenheit zu Ihnen sprechen. Ich habe nur gedacht, einen holländischen Kritiker, der an hervorragender Stelle das Wort ergreift, darauf aufmerksam machen zu sollen dass mir seine Oberflächligkeit aufgefallen ist mit der er deutsche Dinge und deutsche Bücher aus der vorgefassten Meinung beurteilt die er augenblicklich über unsere Tugenden und Untugenden hat. Sie sind mit dieser vorgefassten Meinung, die natürlich von den Emigranten gestützt wird (ohne dass Sie es wollen), z. Zt. sehr schlecht daran. Wenn Sie Zeit haben kommen Sie einmal nach Deutschland und sehen sich die Leute genauer an die Sie augenblicklich so leichtfertig in den Beruf der ‘Friseure’ einzureihen belieben. Das ist das Einzige was ich Ihnen raten kann.
In vorzüglicher Hochachtung
Rudolf G. Binding
Origineel: Den Haag, Letterkundig Museum