Walter Ruttmann:
Cruze's ‘jazz’
Die ungewöhnlich verständnisvolle und zustimmende Art, mit der meine absoluten Filme von dem Publikum der Liga aufgenommen wurden, veranlasst mich, ein paar Worte über den Film ‘Jazz’ zu sagen, der bei der gleichen Veranstaltung viel Verwunderung und manche Ablehnung erfahren hat.
Der Hauptvorwurf, der von verschiedenen Seiten erhoben wurde, war der, dass dieser Film nicht auf ein Ligaprogramm gehört, weil solche Filme auch in gewöhnlichen Kinotheatern zu sehen sind. Ich bin trotzdem der Ansicht, dass es ein Verdienst des Ligavorstandes war, diesen Film zu zeigen, und dass sein relativer Misserfolg nur darauf zurückzuführen ist, dass seine echt filmischen Qualitäten etwas unterirdisch und verdeckt sind. Zugegeben, dass die Photographie veraltet wirkt, zugegeben, dass die meisten Szenen nicht in dem Masse Film geworden sind, wie wir es heute schon verlangen, sondern eher wie photographiertes Possenspiel wirken. Zugegeben! Aber so gross auch im allgemeinen meine Ansprüche sind, die ich an den Film stelle: hier ist einmal am Platze, vieles Negative zu verzeihen, weil zwei ganz positive Werte da sind: erstens ein ganz echter filmischer Geist und zweitens ein menschlich aussergewöhnlich erfreulicher satirischer Mut.
Dass dieser filmische Geist nicht entsprechend materialisiert wurde ist selbstverständlich ein grosser Fehler dieses Films. Es bleiben so tausend entzückende Ideen verborgen und werden nicht film-lebendig. Ein Beispiel für viele: die Tochter des Millionärs zeigt dem armen Komponisten Stoff-Muster für ein Kostüm und fordert ihn auf zu wählen. Gedankenlos wählt er ein weisses Muster mit dünnen schwarzen Schlangenlinien, Dieses Thema wird nun in Traum konsequent durchgeführt: von Szene zu Szene werden die Schlangenlinien des Kleides stärker, aufdringlicher, grotesker, bis zuletzt das ganze Kostüm nur noch aus einer schwarzen und einer weissen Schlange besteht. Dieser entzückende filmische Einfall bleibtaber - wie viele andere - wirkungslos, weil er nur filmisch gedacht und empfunden aber nicht filmisch genug gesehen und realisiert worden ist.
Aber es ist trotzdem Grund genug, sich darüber zu freuen, dass dieser echte Filminstinkt und die frische, menschlich saubere Gesinnung überhaupt zu spüren ist, besonders, weil dieser Film aus Amerika kommt, wo meistens das Gegenteil passiert; nämlich, dass uns heuchlerische Banalitäten in einem technisch vollkommenen und raffinierten Gewand vorgesetzt werden. Man wird verstehen, was ich meine, wenn der furchtbare Christus-Film ‘König der Könige’ in Holland erscheinen wird, dieser ausgesprochene internationale Geschäftsfilm, von dem seine Hersteller behaupten, er sei auf Befehl von Jesus Christus gemacht worden, um seine Lehre in alle Länder zu tragen.