Fritz Rosenfeld:
Tempo
Den grossen Vorsprung, den der Film heute vor andren Künsten hat, verdankt er zum Teil seinem Tempo. Dass er am deutlichsten und unmittelbarsten den jagenden Rhythmus, die atemlose Hast unsres Lebens wiederzugeben vermag, ist ja beinahe schon sprichwörtlich geworden. Durch sein Tempo fesselt der Film das Auge des Zuschauers an die Leinwand, lässt er ihn Ort, Zeit und sich selbst vergessen. Wo der Stoff, die Fabel des Films längst abgedroschen und uninteressant ist, wirkt der Film nur durch das Tempo, das im Zuschauer rhythmische Lustgefühle erweckt. Wo längst keine Spannung mehr besteht, weil der Ausgang des Films keinem Zweifel unterliegt, hält das Tempo allein den Zuschauer in Atem. Es überwindet das Stoffliche des Films, es überwindet die Darsteller, es ist in manchen Filmarten (Wildwestfilm, Detektivkomödie, Groteske) die Hauptsache geworden. Das Tempo ist für die Wirkung vieler Filme ausschlaggebend.
So manchem Zuschauer, den der letzte Akt eines unsinnigen Cowboyfilms oder einer derben Amerikanischen Wurstelei im seinen Bann geschlagen hat, drängte sich wohl schon die Frage auf: wie kommt es zu dieser zwingenden, unwiderstehlichen Wirkung des Filmtempos? Besteht irgendeine geheimnisvolle innre Verbundenheit zwischen der Filmkunst und dem Tempo der
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Gegenwart, ist diese Wirkung eine besondere Eigenheit des Films oder nur das Werk kühler Berechnung?
Eine innre Verbundenheit des Films, der Kunst der Maschine, mit unsrer Zeit, deren Rhythmus von der Maschine angegeben wird, ist wohl nicht zu leugnen. In der Eigenheit des Films, im Raum beliebig hin und herspringen zu können, liegt ein gutes Teil seines ‘Tempos’. Das richtige ‘Tempo’ aber, das atemraubende, mitreissende, das selbst den Unsinn der Handlung vergessen lässt, ist das Ergebnis handwerklicher Kniffe. Es wird in mühsamer, langer Arbeit am fertigen Filmband durch ganz bestimmte Anordnung der Szenen, durch eine raffiniert ausgeklügelte Bilderfolge erreicht.
‘Tempo’ ist ein Zeitmass; es bezeichnet ursprünglich den Grad der Bewegung, in der ein Tonstück vorgetragen wird. Dann wurde der Ausdruck auf jegliche Bewegung übertragen, auch auf die des täglichen Lebens. Er ist immer relativ geblieben. Unter Tempo schlechthin versteht man immer nur das besondere Tempo einer besonderen Zeit. Erst in den letzten Jahren wurde ‘Tempo’ scheinbar von einer relativen Bezeichnung zu einem absoluten Begriff. Wir verstehen unter Tempo die höchste Schnelligkeit, aber eben nur die uns heute erreichbare höchste Schnelligkeit. In einem Jahrzehnt wird die Geschwindigkeit, die man dann als das Tempo der Zeit bezeichnen wird, sicherlich wieder eine andre sein - und wieder als absolut gelten. ‘Tempo’ ist Geschwindigkeit, das Mass der Bewegung. Aber ‘Tempo’ in dem Sinne, in dem das Wort auf den Film angewendet wird, erreicht man nicht durch die Geschwindigkeit allein. Die Bühnenposse erzielte das Possentempo durch die Schnelligkeit, mit der die Schauspieler den Text abhaspeln, mit der die Ereignisse vorüberwirbeln. Schon das Varieté und die Revue, die wie der Film, das Tempo unsrer Zeit besser wiedergeben als die Sprechbühne, erreichen das Tempo auch durch ein andres Mittel: durch den steten Wechsel des Schauobjektes. Geschwindigkeit und Wechsel des Objekts, beide vereint, sind die Tempomöglichkeiten des Films. Die Art, in der der Film diese Möglichkeiten nützt, ist in seinen Ausdrucksmitteln bestimmt. Die Geschwindigkeit eines fahrenden Eisenbahnzugs scheint, wenn wir nahe an dem Gleis stehen, grösser zu sein, als wenn wir den mit derselben Geschwindigkeit fahrenden Zug aus der Ferne betrachten. Je grösser das Blickfeld ist, umso kleiner scheint das Tempo der Bewegung; je kleiner es ist, umso schneller scheint das Tempo des bewegten Gegenstands. Diese Beziehungen zwischen der Distanz vom Objekt und der scheinbaren Schnelligkeit der Bewegung macht sich der Film zunutze. Soll eine Szene recht viel ‘Tempo’ haben, dann wird sie in eine Unmenge kleiner Bildflächenausschnitte zerlegt, in denen die Bewegung ungleich ges hwinder erscheint als sie in der ganzen Bildfläche erschiene. Diese Zerstückelung des Bildfeldes, die dem Theater versagt ist, verbindet nämlich mit dem Vorteil der scheinbaren Vergrösserung der Schnelligkeit noch einen andren: den des Wechsels. Auf diese Möglichkeiten der Erzeugung des Tempos muss der Filmregisseur schon bei den Aufnahmen achten. Eine andre, und die wichtigste, ist ihm noch beim Zusammensetzen des fertigen Films offen. Sie ist ein sehr einfacher, aber wirkungvoller Trick, auf den der Zuschauer im Kino fast nicht kommt: es wird darauf geachtet, dass die Bewegungen nicht hintereinander in ein und derselben Richtung geschehen, sondern dass aufeinanderfolgende Bilder immer einen ‘Zug’ nach verschiedenen Richtungen aufweisen. Eine Verfolgung im Auto wäre langweilig, wenn die Autos immer von links nach rechts durch das Bildfeld sausten. Aus den vielen Metern Film, die bei der Verfolgung gedreht wurden, sucht der Regisseur nun immer entgegensetzte Richtungen zusammen: wir sehen erst das eine Auto von links nach rechts rasen, dann das zweite auf einem andren Stück Wegs von rechts nach links, dann ist das verfolgte Auto schon weiter und schlägt wieder eine andre Richtung ein, worauf das zweite Auto erst die Richtung links nach rechts fährt, in der sich vorher das erste bewegte. Durch diese Anordnung der Bilder, durch das ‘Schneiden’ der einzelnen Szenen, wird an die Stelle einer in einer Richtung abrollenden Bewegung eine Zickzacklinie gesetzt. Und die Bewegung in der Zickzacklinie wirkt schneller, auch wenn sie absolut langsamer ist als die Bewegung in einer geraden oder wenig gekrümmten Linie.
Das ‘Tempo’ der Wildwestfilme, das Tempo aller Verfolgungsszenen wird durch diesen Kniff beim ‘Schneiden’ des Films erzeugt. Ein andres Mittel, das noch nicht lange angewendet wird, hat die doppelte Bewegung des Objektivs und des aufgenommenen Gegenstandes. Zu der Geschwindigkeit, die das bewegte Objekt entwickelt, kommt noch die des bewegten Aufnahmeapparats dazu. Diese doppelte Bewegung wirkt sogar natürlicher als die Aufnahme vom stehenden Apparat aus, denn auch das menschliche Auge, das zum Beispiel einem gallopierenden Pferde folgt, bewegt sich in derselben Richtung mit dem Schauobjekt, nimmt also nicht nur eine Veränderung der Lage des Gegenstandes in Raum, sondern auch eine Veränderung des Raums selbst wahr.
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Wie fast alles im Film, ist auch das Tempo nur die geschickte technische Nützung verschiedener optischer Wirkungsmöglichkeiten. Die Geschwindigkeit, in der sich die Fabel im Drehbuch abwickelt ist für das Tempo weit weniger wichtig. Auch diese Geschwindigkeit wird meist erst beim Schneiden des Films erzielt. Gedreht wird mindestens die doppelte Zahl der Meter, die der Film in der vorführungsbereiten Form hat. Tempo ist ja auch Konzentration, Gedrängtheit, Kürze. Was unmittelbare Wiedergabe des Zeitrhythmus, was immanente Notwendigkeit filmischer Darstellung scheint, das vielgerühmte ‘Tempo’, es ist letzten Endes auch nur die Frucht langwieriger, sachkundiger, nüchterner Arbeit.