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Ernst Krenek
‘Neue Sachlichkeit’ in der Musik

Nouvelle objectivité: conception formée pour l'art plastique, appliquée plus tard également à la musique et au drame. Cette conception ne signifie pas principalement ici l'aurore d'une nouvelle époque, mais surtout la mise en oeuvre à nouveau de moyens simples, clairs et compréhensibles consécutivement à une période d'abstraction et de négligence de l'activité vitale. Dans ce sens, la dite conception ne peut, par conséquent, être appliquée qu'à la musique de l'Europe centrale, puisque la musique romane n'a jamais subi l'influence de ces abstractions à un si haut degré.
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New objectivity, a special conception of plastic arts, thereafter also translated into music and Drama. In this regard it don't mean especially the beginning of a new epoch, but the renewed application of simple, clear und intelligible means after some time of abstraction and aversion for living activity. In this meaning it is only possible to apply this idea at middle-european music, because abstraction has realy never in such a degree influenced roman-international music.
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Nieuwe zakelijkheid: een begrip, gevormd ten dienste van de beeldende kunst later ook op de muziek en het drama toegepast. Hier beteekent dit begrip niet zoozeer de inluiding van een nieuw tijdperk, maar de hernieuwde aanwending van eenvoudige, duidelijke en verstaanbare middelen na een tijd van abstractie en veronachtzaming van levendige activiteit. In deze beteekenis kan het begrip uit der aard slechts op de middel-europeesche muziek worden toegepast, aangezien de romaansche muziek door bovengenoemde abstracties nooit in zoo hooge mate is beinvloed.

Der Begriff ‘Neue Sachlichkeit’ ist bekanntlich zunächst für die bildende Kunst geprägt worden. Was er dort bedeutet, soll uns hier nicht bekümmern, da er aber im Verlauf der Zeit auch auf andere Gebiete der Kunst, und zwar auch auf die musikalische und dramatische Kunst angewendet wurde, so kommt es zu, sich mit dieser Anwendung auseinanderzusetzen. Man muss zunächst zwischen verschiedenen Arten seines Gebrauchs unterscheiden. Für den kunstkritischen Gebrauch des Tages ist der Begriff der neuen Sachlichkeit ein Schlagwort geworden, wie jeder andere. Seitdem es üblich ist, ihn auf neue Werke anzuwenden, wird dies skrupellos getan, selbst wenn sie zufällig aus einer Zeit stammen, wo man von der neuen Sachlichkeit noch nichts wusste, sondern an ihrer Stelle den Expressionismus hatte, der auch auf alles passte, was es gab. Aber die oberflächliche Tageskritik konnte nicht so verfahren, wenn ihr nicht von berufenerer Seite bewusst oder unbewusst vorgearbeitet würde. In unserer Zeit besteht die Tendenz, Entwicklungen oder Wandlungen der Künste möglichst rasch erkenntnismässig zu durchdringen und schlagwortartig festzulegen. So erleben wir es, dass nach lächerlich kurzen Zeiträumen von wenigen Jahren ununterbrochen neue und einander entgegengesetzte Kunstrichtungen entdeckt werden, und das Komische ist, dass es durchaus nicht immer andere Künstler sind, die sie einführen, sondern dass zum Teil dieselben Leute, die vor kurzem Spätromantiker waren, alsbald Expressionisten wurden und nunmehr ‘neue Sachlichkeit’ machen. Nun musste man doch aus Erfahrung wissen, dass die Kunstgeschichte langsamer schreitet, dass die Einheit einer Persönlichkeit, historisch gesehen, immer grösser ist als die individuellen Anschauungswandlungen innerhalb einer solchen Persönlichkeit, und dass erst eine über einen grösseren Zeitraum verteilte Gruppe von solchen Persönlichkeiten, aus zeitlicher Ferne gesehen, eine Art einheitliches Stilbild einer Epoche ergibt. Sicher ist der einzelne Künstler in seinem Leben starken Veränderungen seiner Schaffensart unterworfen, aber wir sollen diese Bewegungen, so bedeutend sie aus der Nähe aussehen mögen, nicht überschätzen. Schliesslich bleibt er durch alle Verwandlungen hindurch dasselbe Ich, und wir sehen im ersten Werk eines beliebigen Meisters aus der Ferne schon die Anzeichen seiner Entwicklung bis zu seinem letzten Werk hin, wenn auch seinen Zeitgenossen diese Entwicklung sprunghaft und überraschend vorkommen mag, weil sie ihr Ziel nicht kennen und ihre Anfänge nicht an Zukünftigem, sondern nur an Vorhandenem messen können. Man sollte sich also hüten, allzu schnell Begriffe zu bilden, so wird man vor der Beschämung bewahrt bleiben, sie demnächst wieder aufgeben und neue herbeischaffen zu müssen. Wir können es gar nicht beurteilen, ob man unser Zeitalter aus historischen Distanz mehr unter dem Gesichts-

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punkt des Expressionismus oder dem der neuen Sachlichkeit betrachten, oder ob man für diese Epoche vielleicht ein ganz anderer Charakteristikum finden wird, auf das wir noch gar nicht aufmerksam sind, weil wir in ihr leben und weder die Tragkraft und Entwicklungsfähigkeit der Prinzipien noch die zeitliche Fernwirkung und historische Potenz der einzelnen Künstler, als in der Zukunft liegende Dinge, beurteilen können.

Dies vorausgeschickt, können wir uns mit der sachlichen Frage beschäftigen, welche ernsthaften Gründe, ausser dem Sensationsbedürfnis literarischer Snobs, vorliegen, nach einem neuen Kunstbegriff zu suchen. Wenn wir das, was im allgemeinen als ‘neue Sachlichkeit’ bezeichnet wird, ansehen, so gelangen wir bald zur Anschauung, dass es sich im wesentlichen um eine Reaktionsbewegung handelt. Das soll nicht heissen, dass man ‘zurück zu’ irgend etwas Vergangenem strebt, weil die Begriffe ‘vorwärts’ und ‘rückwärts’, auf die Zeit angewendet, überhaupt einen Unsinn bedeuten und weil es im Leben und in der Kunst nur ein zeitliches Nacheinander, aber keine Rangordnung des Fortschritts und Rückschritts gibt. Die Reaktion, die in der sogenannten ‘neuen’ Sachlichkeit liegt, besteht darin, dass Mittel angewendet werden, die man schon früher angewendet hat. Was nun speziell die Musik betrifft, so werden wir bald erkennen, dass hier der Begriff dieser Reaktion sich auf einen minimalen Teil der ganzen Gegenwartsproduktion beschränken wird. Ich glaube z.B. nicht, dass man ihn in romanischen Ländern überhaupt verstehen wird. Die romanisch-internationale Musik, die ihre letzten starken Impulse aus der russisch-amerikanischen Synthese Strawinsky empfing, hat sich von der sogenannten ‘sachlichen’ Basis der bodenständigen, traditionellen und aus einer Jahrhunderte alten Konvention naturhaft gewachsenen Tonalität niemals entfernt und bedarf keiner Reaktion, um zu ihr zurückzufinden.

Nur die deutsch-mitteleuropäische Musik unter der Führung Schönbergs, hat die letzten zwanzig Jahre ungefähr mit einer weitgehenden Zersetzung ihres Materials zugebracht. Wir wollen diese nun wohl ihrem Abschluss entgegengehende Epoche nicht weiter analysieren, sondern nur festhalten, dass ihr Wesen die konsequente Welterentwicklung eines romantischen Individualismus war, der den schaffenden Künstler immer mehr isolierte und ihn von Erfolg und Wirkung auf die Aussenwelt wenigstens ideologisch unabhängig zu machen suchte. Darin ist nun wohl eine entschiedene Wandlung eingetreten. Der Musiker sucht nach der Basis einer breiten Wirksamkeit. Es liegt an der eigentümlichen Beschaffenheit der deutschen Mentalität, dass er sie überhaupt erst suchen muss. Der romanische Künstler hat diese Basis von vornherein. Sein äusserer Erfolg wird von der Stärke und Originalität seiner Begabung abhängen, aber er wird nie etwas Abstruses, Sonderbares und Unpopuläres schreiben. Im Bereich des deutschen Geistes liegen die Dinge anders. Unverständlichkeit der Kunst ist vielfach schlechte Gewohnheit, und in krassen Fällen geradezu Erfordernis für die Werterkenntnis eines Kunstwerks geworden. Die Eigentümlichkeit der deutschen Kultur besteht darin, dass sie nicht organisch, homogen und innerlich planvoll gewachsen, sondern sprunghaft, vielgestaltig und konfus ist. Infolgedessen ist es so unsagbar schwer, jenen gemeinsamen Nenner zu finden, der dem neuen Kunstwerk den inneren Erfolg bei den Zeitgenossen sichert, ihre unwillkürliche Einstellung, dass das neue Werk sich an sie wendet und ihnen wie etwas, das ihnen gefehlt hat, zugehört.

Konstatieren wir zunächst, das die Musiker teilweise wieder anfangen, sich diese veränderte Einstellung zur Aussenwelt anzueignen, so mag es immerhin eine Berechtigung haben, dafür auch nach einen neuen zusammenfassenden Begriff zu suchen. Untersuchen wir die Mittel, mit denen die neue Musik diese Umstellung zu erfüllen trachtet, so scheint die Berechtigung dieser Bestrebung bestätigt zu werden. Es ist begreiflich, dass der Kontakt mit der Aussenwelt zuerst in einem gewissen Realismus gesucht wird. Phrasenhaft und sinnlos ist es, wenn behauptet wird, die neue Kunst suche in Gegensatz zu irgend einer vergangenen dem ‘Wesen der Dinge’ nachzugehen. Keine Kunst gibt es, und auch nicht die barockste und für unsere Begriffe überladenste, die nicht in ihrem Programm Wesenhaftigkeit geführt hätte. Und gerade das, was uns die Phraseologie des Expressionismus beschert

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hatte, dass unter der ausseren Form und Oberfläche des Gegenstandes sein Wesen liege und nach der Verzehrung und Zerstörung jener dieses an den Tag komme, will uns die Phraseologie der ‘neuen Sachlichkeit’ am Gegenteil demonstrieren, indem nunmehr gerade in der Oberfläche das Wesen zu finden sei. Die inneren Gründe der Wandlung liegen natürlich anderswo und ergeben sich aus dem Gesagten von selbst. Suchen wir den verlorenen Kontakt mit der Aussenwelt, so müssen wir Gegenstände darstellen, die Gemeingut der Aussenwelt sind, und müssen sie mit Mitteln darstellen, die die Aussenwelt versteht. Die Gegenstände sind vor allen für uns Mitteleuropäer schwer auffindbar, weil das Leben unserer Gegenwart unendlich viele Gestalten und Masken zu tragen scheint, aber sie sind gewiss da oder werden sich mit der Zeit darstellen, wenn Mitteleuropa wieder ein Gesicht bekommen wird, wie es etwa zu Goethes Zeit eines hatte. Die Konvention der Mittel ist viel stärker vorhanden und wir werden bei ihrer Auswahl auf eine planmässige Verwendung des Bekannten unter Berücksichtigung der neuen zu formenden Gegenstände greifen. Der Versuch etwa, die ‘neue Sachlichkeit’ in der Musik in der vielfachen Verwendung von amerikanischen Tanzmotiven und Jazzrhythmen zu sehen, ist verfehlt, weil diese Gegenstände genau so zu den Requisiten unserer Zeit gehören, wie Geister und Feen zu denen der Romantik, und weil natürlich jede Kunst, die nach Resonanz trachtet und in einen Rapport zur Aussenwelt treten will, in Gegenstand und Mittel nach dem jeweils am intensivsten wirksamen Ansatzpunkt streben wird. Dieser liegt nur in unserer Zeit vorwiegend auf dem Gebiet der Vitalität und deshalb wendet sich eine nach Breite strebende Kunst diesem Gebiete zu.

Wir erkennen also wohl, dass eine Wandlung in der Grundeinstellung der mitteleuropäischen Musik im Zuge ist, und dass bei dem Streben unserer Zeit nach gedanklicher Fixierung solcher geistiger Veränderungen die Suche nach einem zusammenfassenden Schlagwort begreiflich ist. Ob der Ausdruck ‘Neue Sachlichkeit’ ein sehr geeignetes Schlagwort ist, halte ich für sehr fraglich, da er mehr zu bedeuten scheint als in Wirklichkeit vorliegt. Wir wollen mit der Prägung eines hochtönenden Namens für eine geringfügige Wandlung, die vielleicht nichts weiter ist als die Rückkehr von einem kleinen und nur sehr teilweise ausgeführten Exkurs zum nie ganz verlassenen Wege, lieber etwas vorsichtig sein.