Walter Kern
Film als Kunst
Ein Beitrag zur Aesthetik des Films
Dass der Film bis heute als Kunst letzter Klasse behandelt wurde, lag an einer Verkennung seiner Aufgabe. Der (oder das?) Kino galt bis heute mit Recht als ein billigerer, populärerer Ersatz für das Theater, so wie die Photographie heute das Ahnengemälde ersetzt. Würden alle die Unmöglichkeiten des Films im Theater gespielt werden können, würde man zweifellos das lebendigere, mehr Wirklichkeit vortäuschende Bühnenbild der Chromo-Leinwand vorziehen. Und so wenig man von der Zirkuspantomine als Kunst spricht, so wenig darf der heutige Film Anspruch darauf erheben als Kunst zu gelten. Um dem Film sein eigenes Reich zu schaffen, müssen seine Möglichkeiten zur Schaffing reiner künstlerischer Werte vorerst erkannt werden.
Der Film ist ein neues Kunstmaterial von grösster Dehnbarkeit, das gerade infolge seiner Elastizität zuerst dem niedersten Spieltrieb anheimfiel. Das bis heute geschaffene Filmrepertoire hat wohl in der Geschichte menschlicher Spielereien kein Ebenbild: Alle literarischen Eroberungen von der Kreuzigung Christi bis zu Meyrinks Spukgeschichten bedeuten jedoch für den Film keine künstlerische Erweitering, da sie keine Vergeistigung das Rohmateriales, sondern nur eine Anwendung desselben darstellen. Der Film is heute noch nur ein Mittel zur Befriedigung der niedersten Schaulust. Es ist verständlich, dass
diese Kindheitsperiode das Films auf Objektsuchung ausging, droht nun aber infolge der Endlichkeit dieser Aufgabe in einer Sterilität zu enden, die ihre Ohnmacht noch durch einige ‘Riesenfilmwerke’ zu übertünchen sucht.
Positiv an dieser Entwicklung ist bis heute nur das erworbene Wissen um die technischen Möglichkeiten. Die ganze Entwicklung war eine Täuschung am Material. Und die Art des Materiales bedingt die Grenzen des künstlerischen Ausdrucks. Verkennung des Materiales aber bedroht die Reinheit der künstlerischen Gestaltung.
Der künstlerisch ausmüzbare Wert dieses neuen Kunstmateriales ‘Film’ kann vor allem nicht darin bestehen, dort darstellend zu beginnen, wo das Theater technisch bedingt enden muss. Der Film hat Eigenlebendiges, das keinem andern Kunstmaterial, weder der Farbe, noch dem Stein oder Ton eignet. Ein Vergleich mit den andern Künsten zeigt deutlich, dass man es hier nicht nur mit einer ‘handlungsfähigen’ Malerei oder einer körperhaft sichtbaren Dichtung zu tun hat, die nur eine technische Überwindung der Lessing'schen Grenzen der Malerei und Poesie wäre, sondern mit einer Kunst die eher in die Nähe der Musik gerückt werden muss und die innerhalb ihrer Grenzen selbständiger dasteht als etwa die Oper oder das naturalistische Theater.
Es ergibt sich folgendes Schema:
Die Malerei stellt das Stoffliche eines Körpers im illusorischen Raume und statischen Zustande dar.
Die Plastik stellt das Formale eines Körpers im wirklichen Raume und im statischen Zustande dar.
L. MOHOLY-NAGY
MORD AUF DEN SCHIENEN
KINOPLAKAT 1925
Die Dichtung stellt das Diskursiv-Geistige einer Handlung in der illusorischen Zeit und im dynamischen Zustande dar.
Die Musik stellt das Intuitiv-Geistige einer Handlung in der realen Zeit und im dynamischen Zustande dar.
Das Theater ist eine Mischung der am Stofflichen orientierten Malerei mit einer diskursiv-geistigen Handlung im wirklichen Raume im dynamischen Zustand.
Woraus sich ergibt, dass:
der Film eine Mischung der am Formalen orientierten Plastik mit einer intuitiv-geistigen Handlung im illusorischen Raume und im dynamischen Zustand
sein soll.
Demnach liegt die Aufgabe des Films nicht darin, ein illusorisches Theater zu sein, so wenig wie die Malerei illusorische Plastik ist. Der Kino hätte dem Theater gegenüber die gleiche Stellung einzunehmen, wie die Plastik der Malerei gegenüber in bezug auf die Darstellung des Körperlichen. In Bezug auf die Handlung soll er dem Theater wie die Musik der Dichtung gegenüberstehen. Und wie in der Musik ein erzählender Hintergrund nicht erforderlich ist, da sie mehr vom Intuitiven einer Handlung lebt, sollte auch der Kino ohne erzählende Handlung auskommen, d.h. ohne Literatur und von dem Rhytmus seiner Formelemente im illusorischen Raume seine künstlerische Wirkung bestreiten.
Die Sphäre des Kinos wird demnach mehr im Abstrakten liegen als diejenige des Theaters, wie auch die Plastik ihrem Wesen nach abstrakter ist als die Malerei.
(Scheinbar möchte es umgekehrt scheinen, indem die ‘körperliche’ Plastik uns wirklicher, konkreter erscheint als die Malerei. Sie ist trotz ihrer räumlichen Realität aber abstrakter, da sie nur den formalen Eindruck wiederzugeben vermag und von der stofflichen Eigenart eines Gegenstandes abzusehen hat. Das Kubische eines Gegenstandes, von dem die Plastik allein zu leben hat, ist von seiner stofflichen Beschaffenheit unabhängig. So darf Plastik auch nur im Sinne einer Erhöhung des formalen Erlebnisses bemalt werden, nicht aber aus stofflicher Neugierde, was auch für den Film gelten muss).
Hieraus resultiert, dass die Aufgabe des Films nicht in einer literarischen Terrain-Eroberung noch in der Vollendung der stofflichen Wiedergabe liegen kann, so wenig wie de Malerei als eine statisch-rämliche Angelegenheit eine Bereicherung durch die Historienmalerei oder den Futurismus erfahren kann. Der Futurismus wird auf das Kunstmaterial ‘Film’ angewandt an seinem rechten Platz sein, nicht aber in der statisch bedingten Malerei.
Wenn der Film daher künstlerische Selbständigkeit anstreben will, müssen vor allem seine optischen und mechanischen Eigenschaften ausgewertet werden, d.h. seine dynamischen Möglichkeiten im illusorischen Raume. Die Handlung ist sekundärer Bedeutung.
Es soll eine rhytmisch geordnete Schönheit mechanischer Formen realisiert werden und Musik soll dieses Ballett der Formen umspülen.
Im Film ringt ein neues Material um Vergeistigung und künstlerische Realisierung, das wir nicht mehr länger an das Literarische gefesselt lassen dürfen, wenn wir uns der Freude eines neuen Lebensgefühls benehmen wollen, das nur in der präzisen Dynamik des Films, in seinen beglückend reinen Formen Wirklichkeit werden kann.
Wenn Reiz, wie Lessing sagt, Schönheit in Bewegung ist, so haben wir im Film ein ‘Reizmittel’ gefunden, das an Vollendung alle Ahnung übersteigen kann. Hier würde der Reiz nicht zur Grimasse wie in der Malerei, sondern um weiter bei Lessing zu bleiben (nur sagt er das von der Poesie): ‘Der Reiz bleibt, was er ist: ein transitorisches Schönes, das wir wiederholt zu sehen wünschen. Es kömmt und geht; und da wir uns überhaupt einer Bewegung leichter und lebhafter erinnern können als blosser Formen und Farben, so muss der Reiz in dem nämlichen Verhältnis stärker auf uns wirken als die Schönheit’.
Eine Ästhetik des Films, die auf den ausgeführten Erkenntnissen zu gründen hat, wird unvermeidlich sein.