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Vorbereitender internationaler Kongress fuer neues Bauen
im Château de La Sarraz, 25/29. Juni 1928

Offizielle ErklÄrung.

Die unterzeichneten Architekten stellen unter sich eine grundlegende Uebereinstimmung ihrer Auffassungen vom Bauen, sowie ihrer beruflichen Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft fest und betonen hierbei im Einzelnen, dass sie unter Banen eine ganz elementare Tätigkeit des Menschen verstehen, die in ihrem ganzen Umfang und in ihrer ganzen Tiefe an der gestalterischen Entfaltung unseres Lebens beteiligt ist. Die Aufgabe der Architekten ist es deshalb, sich in Uebereinstimmung zu bringen mit den grossen Tatsachen der Zeit und den grossen Zielen der Gesellschaft, der sie angehören und ihre Werke darnach zu gestalten. Sie lehnen es infolgedessen ab, gestalterische Prinzipien früherer Epochen und vergangener Gesellschaftsstrukturen auf ihre Werke zu übertragen, sondern fordern eine jeweils nene Erfassung einer Bauaufgabe und eine schöpferische Erfüllung aller sachlichen und geistigen Ansprüche an sie.

Sie sind sich bewusst, dass die Strukturveränderungen, die sich in der Gesellschaft vollziehen, sieh auch im Banen vollziehen und dass die Veränderung der konstitutiven Ordnungsbegriffe unseres gesamten geistigen Lebens sich auch auf die konstitutiven Begriffe des Bauens bezieht. So wird es ihnen eine Selbstverständlichkeit, dass sie ihre besondere Anfmerksamkeit auf nene Baustoffe, neue Konstruktionen und neue Produktionsmethoden richten und dass sie ihre Sorgen allen Fragen im Bereiche ihres Berufes zuwenden, die eine Förderung ihrer Arbeit in Aussicht stellen.

Sie haben deshalb beschlossen, sich in Zukunft über die Grenzen ihrer Länder hinaus gegenseitig in ihren Arbeiten zu unterstützen.

 

Auf Grund dieser Erklärung wurden die wichtigsten Punkte eingehender diskutiert und die Resultate dieser Diskussion in den nachfolgenden Artikeln festgelegt:

I. Allgemeine Wirtschaftlichkeit.

1.Das Problem der Architektur im modernen Sinne fordert in erster Linie die intensive Verbindung ihrer Aufgabe mit den Aufgaben der allgemeinen Wirtschaft.
2.Wirtschaftlichkeit ist im technisch-produktiven Sinne zu verstehen und bedeutet den möglichst rationellen Arbeitsaufwand und nicht den möglichst grossen Ertrag im geschäftlich-spekulativen Sinne.
3.Die Notwendigkeit der ökonomisch wirksamsten Produktion ergibt sich zwangslänfig daraus, dass wir heute und in der nächsten Zukunft mit allgemein verschärften Lebensbedingungen zu rechnen haben:
a)Wirtschaftliche Selbständigkeit der einzelnen Länder und der Koloniën,
b)Einschränkung der Weltwirtschaft - verstärkte Binnenwirtschaft.
4.Die Konsequenzen der ökonomisch wirksamsten Produktion sind Rationalisierung und Standardisierung. Sie sind von entscheidendem Einfluss auf die Arbeit des heutigen Bauens.
5.Rationalisierung und Standardisierung äussern sich in dreifacher Hinsicht:
a)sie fordern vom Architekten eine intensive Reduktion und Vereinfachung der beim Bau notwendigen Arbeitsvorgänge;
b)sie bedeuten für das Bauhandroerk eine einschneidende Reduktion der heutigen Vielzahl der Berufe zugunsten weniger, auch für den ungelernten Arbeiter leicht anzulernender Fertigkeiten;
c)sie fordern vom Verbraucher, dem Besteller und Bewohner des Hauses, eine Klärung seiner Ansprüche im Sinne einer weitgehenden Vereinfachung und Verallgemeinerung der Wohnsitten. Dies bedeutet einen Abbau der heute überschätzten und durch gewisse Industrien emporgetriebenen Einzelansprüehe zugunsten einer möglichst allgemeinen und breiten Erfüllung der heute zurückgesetzten Ansprüche der grossen Masse.
6.Die Anforderungen an die Produktion haben sich aber nicht nur verschärft - sie hat sich selbst auch insofern verschoben, als wir im Gegensatz zur handwerklich organisierten Produktion der Vergangenheit mit der industriell organisierten Produktion der Gegenwart zu rechnen haben.
7.Die Untergrabung des Handwerks durch die Aufhebung der Zünfte hatte eine tiefgehende Desorganisation des Bauhandwerkes zur Folge. Diese Desorganisation machte die Ueberwachung des Bauens durch die Baugesetze notwendig. Die heute einsetzende industrielle Entwicklung fordert eine Neuorientierung dieser Baugesetze mit Rücksicht darauf, dass die Industrie auf der einen Seite die nötige Bewegungsfreiheit in der technischen Entwicklung verlangt und auf der andern Seite für die nötige Kontrolle ihrer Erzeugnisse selbst sorgt (Qualitätsnormen, Fabrikmarken).

II. Stadt- und Landesplanung.

1.Stadtbau ist die Organisation sämtlicher Funktionen des kollektiven Lebens in der Stadt und auf dem Lande.
Stadtbau kanu niemals durch ästhetische Ueberlegungen bestimmt werden, sondern ausschliesslich durch funktionelle Folgerungen.
2.An erster Stelle steht im Stadtbau das Ordnen der Funktionen:
a)Das Wohnen,
b)Das Arbeiten,
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c)Die Erholung (Sport, Vergnügen).
Mittel zur Erfüllung dieser Funktionen sind:
a)Bodenaufteilung;
b)Verkehrsvegelung;
c)Gesetzgebung.
3.Auf der Basis der nach sozialen und ökonomischen Grundsätzen durch die Landesplanung festgesetzten Bevölkerungsdichte wird das Verhältnis zwischen Wohnflächen, Sport- und Grundflächen und Verkehrsflächen bestimmt. Der jetzt durch Kauf, Spekulation und Erbschaft chaotischen Zerstückelung der Bodenflächen ist durch eine planmässig betriebene kollektive Bodenwirtschaft zu begegnen. Diese Entwicklung kann heute schon durch die Ueberführung des ungerechtfertigten Mehrwertgewinnes an die Allgemeinheit und durch den Ausbau des Erbbaurechtes eingeleitet werden.
4.Die Verkehrsregelung hat die zeitliche und örtliche Folge aller Funktionen des Gemeinschaftslebens zu umfassen. Die wachsende Intensität dieser Lebensfunktionen, fortwährend nachgeprüft durch die Mittel der Statistik, zieht die wachsende Diktatur des Verkehrs unumgänglich nach sich.
5.Die sich stetsfort entwickelnden technischen Mittel der Neuzeit erzwingen eine totale Veränderung der Gesetzgebung und eine dem technischen Fortschritt fortwährend folgende Umwandlung.

III. Architektur und öffentliche Meinung.

1.Die Notwendigkeit, im Sinne der prinzipien des neuen Bauens auf die Allgemeinheit einzuwirken, bildet eine wichtige Aufgabe der Architektenschaft. Die Aufgaben des Architekten sind dieser Allgemeinheit gegenüber schlecht definiert. Die Wohnprobleme sind nicht klar gefasst. Die Anforderungen der Konsumenten - Besteller und Bewohner des Hauses - werden heute bestimmt durch eine Reihe von Faktoren, die mit der Wohnungsfrage nichts zu tun haben und eine klare Formulierung der berechtigten Ansprüche verhindern. Infolgedessen kann der Architekt die wirklichen Aufgaben des Wohnens nur unvollkommen erfüllen. Diese mangelhafte Erfüllung bedingt für die Gesamtheit eine ungeheure unproduktive Ausgabe. Die weitere Folge ist, dass ein zu hoher Standard des Wohnens, eine Tradition der zu teuren Wohnung die gesunden Wohnmöglichkeiten des grossen Teils der Bevölkerung notwendigerweise einschränkt.
2.Die elementaren Grundsätze des Wohnens könnten in wirksamer Weise durch den Unterricht an den Erziehungsstätten verbreitet werden: Forderung der Reinlichkeit, Einfluss von Licht, Luft und Sonne, Grundsätze der Hygiene, praktisch Anwendung des Hausgeräts.
3.Ein solcher Unterricht hätte zur Folge, dass die heranwachsende Generation einen klaren und rationellen Begriff von den Aufgaben des Hauses erhielte und damit in der Lage wäre, als zukünftige Konsumenten die vernünftigen Anforderungen an das Haus selbst aufzustellen.

IV. Architektur und Beziehung zum Staat.

1.Für die moderne Architektur, die den Willen hat, das Bauen von der rationellen, wirtschaftlichen Seite her zu betreiben, bedeuten die heutigen staatlichen Akademien und Hochschulen mit ihren ästhetisch und formalistisch gerichteten Methoden eine dauernde Hemmung.
2.Die Akademien sind notwendigerweise die Hüter der Vergangenheit. Sie haben aus den praktischen und ästhetischen Methoden der historischen Epochen Dogmen der Architektur gemacht und verleugnen damit die Grundlagen des Bauens. Ihre Auschanungen sind falsch und die Resultate sind ebenso falsch.
3.Der Akademismus verleitet die Staaten zu grossen Aufwendungen für monumentale Bauaufgaben und fördert damit einen überlebten Luxus, der mit der Vernachlässigung der dringendsten städtebaulichen und wirtschaftlichen Aufgaben erkauft wird.
4.Es ist deshalb notwendig, dass die Staaten eine gründliche Revision der Erziehungsmethoden in der Architektur vornehmen und auf diesem Gebiet dieselben Grundsätze annehmen, die auf allen andern Gebieten zu einer Versorgung ihrer Länder mit den produktivsten und fortschrittlichsten Organismen geführt haben.
5.Eine parallele Hemmung der Entwicklung des Bauens in rationaller, wirtschaftlicher Richtung bedenten diejenigen staatlichen Vorschriften, die in irgend einer Form auf eine ästhetische formale Beeinflussung des Bauens hinauslaufen und deshalb nachdrücklich zu bekämpfen sind.
6.Die neue Einstellung des Architekten, seine notwendige und gewollte Einordnung in den Produktionsprozess, machen den besondern Titelschutz von seiten des Staates überflüssig.
7.Die Aenderung der Haltung der Staaten in diesen Fragen bedeutet die wichtigste Förderung, die das neue Bauen heute von dieser Seite verlangt nnd liegt in einer Linie mit den allgemeinen wirtschaftlichen und kulturellen Aufgaben der Gesellschaft.

28. Juni 1928.

 

Die offizielle Erklärung wurde von folgenden Architekten unterzeichnet:

 

H.P. Berlage, Haag.
V. Bourgeois, Brüssel.
P. Chareau, Paris.
J. Frank, Wien.
G. Guevrekian, Paris.
M.E. Haefeli, Zürich.
H. Häring, Berlin.
A. Höchel, Genf.
H. Hoste, St. Michiels.
P. Jeanneret, Paris.
Le Corbusier, Paris.
A. Lurçat, Paris.
E. May, Frankfurt,
A.G. Mercadal, Madrid.
Hannes Meyer, Bauhans Dessau.
W.M. Moser, Zürich.
C.E. Rava, Mailand.
G. Rietveld, Utrecht.
A. Sartorius, Turin.
Hans Schmidt, Basel.
Mart. Stam, Rotterdam.
M. Steiger, Zürich.
H.R. Von der Mühll, Lausanne.
Juan de Zavala, Madrid. I