Gertrud Schilf
aan
Menno ter Braak

Berlijn, 10 oktober 1928

Steglitz. Belfortstrasse 13 I

10.10.1928.

Lieber Herr ter Braak,

Es sollte bestimmt nicht so lange mit einem Brief und Dank an Sie dauern, ich habe es auch durchaus nicht vergessen oder vertrödelt, aber ich wollte Ihr Buch bestimmt erst auslesen und hoffte, es würde Ihnen inzwischen so gut, amüsant und ausgefüllt vergehen, daß Sie an das mir geschickte Exemplar Ihrer Arbeit nicht so deutlich denken würden. Als ich zu Gerdas Einsegnungsfeier ging, überlegte ich mir unterwegs, was ich für ein Gesicht machen sollte, wenn ich Ihnen bei Geissel's begegnen würde - mir war nicht ganz behaglich, trotzdem ich mich natürlich gefreut hätte, Sie zu sehen. Ich will ja nicht versuchen, mich zu entschuldigen, aber: als Ihr Buch kam fing ich sofort an zu lesen & kam in ein paar Tagen bis - ich weiß es ganz genau - auf Seite 148, sah im Anfang die vielen Druckfehler & bedauerte Wehner, wurde von Ihrer Art zu sehen, scharf zu sehen, mit sehr viel Verstand zu sehen - von der Sache verstehe ich nichts - sehr gefesselt staunte über eine leise Gereiztheit im Unterton, die ich nicht recht unterbringen konnte: gilt sie den von Ihnen abgekanzelten Geschichtsforschern der Arbeit oder macht ein deutsches Etwas Sie ungeduldig? - Dann kam nach dem langen kühlen Frühjahr der Sommer meine Reise -, das Buch nahm ich mit, ohne vor Ärger über die Nordsee & vor lustiger Gesellschaft mit ihm zu Ende zu kommen. Zuhause angekommen noch 8 wundervollen Hartztagen als Trost für die Nordsee und einer kleinen Städtereise durch Lüneburg, Goslar, Wernigerode, Halberstadt, die mich mit ihren alten Häusern, Domen & Stimmungen beglückten, folgten 3 Wochen ‘Dagmar’. Das bedeutet, daß man zu nichts anderem kommt. Am letzten Montag nam ich Ihr Buch wieder zur Hand, bin gestern fertig und danke Ihnen also heute. Ich verstehe vollkommen, daß es Ihnen ein ‘cum laude’ eingetragen hat, & wie ich hörte, eine Arbeitstelle, wie die Ihnen angenehm ist. Ihre Art mit dem Verstande alles so deutlich auseinander zu nehmen, erinnerte mich an eine ähnliche Art im ‘Herbst des Mittelalters’, trotzdem in Ihrer Arbeit glaube ich nicht so viel und alles von Ihnen dabei ist wie in jenem Buch von einem Verfasser. Sehr wohlgetan und meinen vollen Glauben findet Ihre Meinung bei mir darüber: die Nationen brauchen nicht die letzten Entwicklung eines menschlichen Gesellschaftlebens zu sein. Wie weit sind aber die Wege, bis auch nur die feindliche oder auch nur unbewußte Art der Ablehnung andersgearteter Menschen bekämpft oder gar auch nur bewußt wird, denn jeder liebt eine Art und ist in ihr am glücklichsten. Ganz abgesehen von der Unbequemlichkeit sich in anderer Menschen Art zu schicken!!! Was für einen weiten Horizont setzt das voraus! Aber vielleicht liegen Dinge der Art doch schon in der Luft, denn nichts zwingt mich so sehr zum Nachdenken wie das Sich-vertragen der Menschen. Der Pacifismus bohrt[?] in mir, und ich breche viele Lanzen für ihn, bringe dabei meine Kampflust unter u. ein Leitsatz dabei ist: alle Frauen, die ein Bisschen nachdenken, müssen für den Pacifismus eintreten. -

Ich weiß nicht, ob Sie dieser Brief über Ihr Buch noch interessieren wird, aber ich hoffe, er zeigt Ihnen, daß ich nicht nur nachlässig war, u. daß ich Ihnen auch richtig danken wollte. Nur lange hat es gedauert. Tragen Sie mir es bitte nicht nach & lassen Sie mal von sich hören. - Wie immer wünsche ich Ihnen alles Gute, wonach Ihr Sinn steht, und grüße Sie vielmals,

Trude Schilf

Origineel: Den Haag, Letterkundig Museum.

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