Carl Wehmer
aan
Menno ter Braak

Berlijn, 24 juni 1929

Berlin, 24. Juni 1929

Lieber Herr ter Braak!

Es ist mir sehr peinlich, Ihnen gestehen zu müssen, dass ich bereits seit Wochen vergeblich Ihren Brief, der mir sehr interessant war, gesucht habe, um ihn endlich zu beantworten. Denn um ihn beantworten zu können, muss ich ihn vor mir haben, da ich in meinem Gedächtnis die von Ihnen präcisierten Probleme nicht mehr mit genügender Klarheit reproducieren kann. Sie müssen es entschuldigen, denn meine äusseren Umstände befinden sich zur Zeit in einem Zustand grosser Unordnung, da ich alle paar Wochen umziehen muss. Meine ganzen Bücher befinden sich in Koffern bei Bekannten auf dem Dachboden und Ihr Brief wird sich wohl dort auch befinden. Bis Ende nächsten Monats muss ich meine Doktorarbeit fertigstellen und befinde mich in einer dem entsprechenden angespannten und nervösen Verfassung.

Wenn ich mich recht entsinne, so schnitten Sie die Frage an, wieweit die augenblickliche historische Einzelforschung überhaupt noch von Sinn getragen sei. Mir ist dies auch stets eine Frage des Nachdenkens. Augenblicklich befinden sich ja fast sämtliche Gebiete geistigen Lebens in einem Zustande der Desorganisation, des Zweifels. Der Krieg hat zwar die alte Gesellschaft und damit die natürliche Basis allen Vorkriegsdenkens angegriffen, aber das hierfür kritisch wache Auge sieht noch nichts Neues, was Ersatz verspricht. Die alten politischen, wie geistigen Positionen sind samtlich vielleicht [onleesbaar] geworden, doch fehlt das Neue, auf das man sich stützen kann. Denn das kommunistische Experiment scheint in unserem sociologisch doch recht anders gearteten Westeuropa keine Nachfolge finden zu sollen. Dort in Rüssland findet man, augehend von dem Elan und Pathos eines neuen Staats- und Gesellschaftwillens auch den Ausgangspunkt für ein neues einheitliches Geschichtsdenken. Die russischen Historiker, die unter Führung Pokrowakis vor einem Jahr hier waren, boten die Lebendige Illustration dafür. Man beneidet Sie um ihr Dogma und ihre Glaübigkeit, die allerdings zu imitieren für mich auf den Boden unserer westeuropaischen Gesellschaftsverfassung eine Unmöglichkeit bedeutet. Trotzdem wird sich nicht leugnen lassen, wie in unser historisches Denken ganz neue Impulse einströmen, die Tendenz geht zu einem mehr gemeinschaftlichem, anti individualistischen Sehen, die Probleme werden nüchterner angepackt, mit einem mehr generellen Interesse. Meines Erachtens wäre es gut, in dieser neue Arbeitsweise den Sinn der liberalen, individualistischen, ‘bürgerlichen’ Epoche heneinzuretten. Uberhaupt scheinen mir die Chancen für eine neue liberale Position besser zu werden, wenn die Entwicklung in gleichen Tempos fortschreitet. Denn wenn erst alle Flachköpfe Geschichte à la Hegel oder Marx treiben, dann wird man sich nach Rankischen Salz in dieser etwas faden Suppe sehnen. Sie werden verstehen, dass dies nicht im Sinn einer geistlosen Reaktion gemeint ist, denn ich besitze fur diese ‘kollektiven Tendenzen’, wie das Schlagwort heisst, vieles Verständnis. Es hat etwas Erlösendes, in ein gestaltloses Durcheinander neue Wertungen hineinzutragen. Dasselbe findet man ja auf anderen Gebieten, z.B. dem Theater. Symptom dafür ist [onleesbaar] bei uns die Broschüre von Ihering, Klassikertod? Und auf dem Gebiet des Films scheint es mir evident zu sein, dass eine neue Wertung und eine neue sociologische Umgebung in Russland dieser für mein Empfinden hervorsagender Filme auch als Kunstwerke erst ermöglicht haben, die einem doch dem Geschmack an der sonnstigen Pomadefabrikation auf diesem Gebiet endgultig verdorben haben; einige französische Filme möchte ich allerdings ausnehmen (etwa: Therese Raquin, Jeanne d'Arc, Verdun). Doch hier sind Sie ja Fachmann und ich will mich mit meinen Urteilen nich blamieren. Jedenfalls scheint mir auf keinem Gebiet das Geld eine so unheilvolle Rolle su spielen, wie im Filmgeschäft. Aesthetisch befriedigender Autos kann man auf diese Weise herstellen, aber keine guten Filme; nämlich gut, wenn man Sie vom künstlerischen und wesentlichen beurteilen will.

Anfang August wirde ich Berlin wohl verlassen. Post erreicht mich aber dann noch über meine Heimatadresse: Hannover, Alleestr. 35 I. Vorher auch per: Berlin C.2., Historisches Seminar der Friedrich- Wilhelmuniversität, Unter den Linden.

Sehr würde ich mich freuen bei Gelegenheit wieder von Ihnen zu hören.

Mit herzlichen Gruss

Ihr Carl Wehmer

Origineel: Den Haag, Letterkundig Museum

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