Konrad Merz
aan
Menno ter Braak

Amsterdam, 23 december 1935

Amsterdam-Z.

23.12.35

Lieber Dr. Ter Braak,

für Ihre große Sinterklaassendung danke ich Ihnen. Ich habe mich sehr gefreut. Erstens, weil ich nun alle Ihre Bücher (bis auf zwei) habe, und es ist mir, als ob Sie nicht mehr gänzlich im Haag seien, sondern auch etwas in Amsterdam. Und zweitens, weil ich nun die zweite Reihe in meinem Bücherkasten eröffnen konnte. Zu fühlen, wie die greifbaren Dinge mir hier zuwachsen, das ist einem, der seine guten Güter in seiner Heimat lassen mußte, so als ob er etwas wie eine zweite Heimat blicken und greifen kann. Und drittens: überhaupt, gute Bücher sind gute Freunde. Aber nur wenig gute Freunde kann man haben.

Zu Sinterklaas bekam ich übrigens auch einen Eimer, darauf stand: ‘25 Pfund Pflaumenmuß’.

Ich hatte bisher soviel zu tun, daß ich noch nicht Ruhe hatte, die Bücher zu lesen. Danach werde ich mich aber vor Ihnen verantworten.

Huizingas Buch hat mir recht wenig gegeben. Es scheint mir die saubere Diagnose eines Arztes der alten Schule. Ohne begründetes Fühlen in die Zukunft, wie es Nietzsche hatte, und weil die Jugend sich von H. nicht verstanden fühlen kann, scheint es mir selbst ohne erzieherischen Wert.

Wenn H. etwa schreibt: ‘Voor de kunst geldt geen moeten. Haar scheppingsdrang is een willen’, so ist das einer der vielen Danebenpatzer. Der Zwang in der Kunst scheint mir nicht weniger stark als in der Wissenschaft, nur ist es ein anderer, ein Zwang aus allen Tiefen des Seins. Und zugleich mit und in der Form gegeben.

Ich wunderte mich, warum ich in diesem Jahre kein Gedicht schreiben konnte. Aber in diesem Jahre, dauernd schaffend an einem Buch, konnte ich wohl kein Erlebnis anders fühlen als in epischer Form. Jedes Gefühl und Erlebnis ist uns ein mögliches Kunstwerk, dieses aber hat schon in der ersten Regung seine eigene Gestalt. Deren Gesetzlichkeit nicht kleiner sein darf als die, daran die Wissenschaften gefesselt sind; ich glaube, sie muß weiter und tiefer, sie muß anders sein. Von unserem Willen darf unser Schaffen im letzten nicht kommen.

(Das einzige Gedicht, das ich nun geschrieben habe, lege ich Ihnen bei)

Gewiß, mit einigen Fehlern könnte man Huizingas Buch nicht verurteilen, aber auch das Gesamte gab mir nur wenig. Erfreulich bleibt es heute als aufrechtes Bekenntnis eines geistigen Menschen.

Auch Else Böhle habe ich gelesen. Dieses Buch scheint mir wirklich bedeutender. Es ist für Holland wohl eine ganz neue Art, in Empfindung und Form (die vielleicht mit dem Hampton Court begann). Bei all dem satten Geschreibsel uralter Tanten und Onkels endlich ein Rücksichtsloser, endlich ein Mann (der sich trotzdem nicht schämt, Neffe zu sein). Aber besondere Begabung ist besondere Verpflichtung, und ich hätte dem Vestdijk manchmal mehr Verantwortungsgefühl gewünscht. Einem Mann rücksichtsloser Wahrheit ist es nicht erlaubt, sein Werk in einen Rahmen zu legen, der jedem als unwahr erscheint (die Unwahren sind dann zu leicht geneigt, zu sagen: ‘Den Wahren gefällt das Unwahre also immer noch ganz gut.’)

Ich meine, dass dieses die letzten Aufzeichnungen eines Zum-Tode-Verurteilten sein sollen. Das glaubt Vestdijk wohl selbst nicht. Zuerst ist ja die Aufregung, das Rubbelnde darin, dann aber erst wieder das eigentliche Buch, zu dem jener Rahmen nicht gehört.

Der Teil, der in Holland spielt, ist ausgezeichnet.

Auch Else Böhler ist dort sehr genau (im Gefühl) und gut geschildert. Hier ist V. auf eigenem Grund. Hier hätte er bleiben müssen.

Die Abteilung, die dann in Deutschland spielt, scheint mir in der Gestaltung verfehlt.

Deutschland, wie es der Autor sieht, war in Else (auf holländischem Boden) fein gestaltet. In Deutschland wird fast alles ungenau, verschwommen und zum Teil gar falsch. Nun solche Fehler, dass man im Berliner Rathaus Auskunft über Wohnungsverbleib erhalten soll, was nur im ‘Polizeipräsidium’ geschehen kann, oder etwa das unberlinische Berlinisch oder Rosenberg, der nicht so und grundsätzlich nicht in einer solchen Veranstaltung spricht und dass R. die Else in dem Riesenberlin zufällig treffen soll … aber vor allem daß ich nichts von dem wirklichen Deutschland spüren kann, macht mir die Gefolgschaft schwer.

Es wäre nötig, daß auch Deutsche ein Buch solcher Art lesen könnten, mit rotem Kopf die eigenen Gebrechen sehen. Ich spüre solches in dem holländischen Teil, in dem deutschen schäme ich mich etwas für Vestdijk.

Daß ich über Deutschland übrigens eine andere Meinung habe, besagt selbstverständlich nichts gegen Vestdijk und nichts gegen mich. Vor einer dämlichen Kritik, wie der von Uyldert, würden freilich meine Bedenken verstummen, denn wenn man nicht sofort den Rangunterschied zwischen diesem Buch und denen der alltäglichen Gebärmaschinen spürt, so hat man kein Recht, über dieses Werk zu schreiben.

Ich hoffe, daß die Entwicklung Vestdijks noch nicht beendet ist, und daß er in Zukunft auf dem Grunde bleibt, auf dem er doch so gut stehen und gehen kann.

Ich wünsche Ihnen und Ihrer Gattin nun ein frohes Fest und ein beglückendes neues Jahr

herzlich

Ihr

Kurt Lehmann

Mein Buch ist im Druck.

Der Name des Autors ist geändert in Konrad Merz. Das wird mein endgültiger Name sein.

In eine Änderung des Buchtitels habe ich nicht eingewilligt.

Gedicht von ‘Kurtlemann’ für Menno ter Braak, 1935

 
Einem fernen Lande
 
 
Eine Hand zuckt durch die Nacht
 
durch die satte, platte Ruh
 
eine Hand zuckt durch die Nacht
 
einem fernen Lande zu
 
 
Dort, aus meinem Leib gehackt
 
liegt im trüben Tag mein Herz
 
auf den Märkten liegt es nackt
 
und man kauft es dort als Scherz
 
man versteigert meine Wunde
 
man bespottet meinen Schmerz!
 
‘Gutes Futter, nur für Hunde,
 
denn es ist ein Menschenherz!’
 
 
Meine Hand zuckt durch die Ruh
 
jenem fernen Lande zu
 
 
Soll ich tränen oder klagen
 
oder soll ich untergehn?
 
Ich hab einen großen Magen
 
ich darf nicht vorübergehn
 
denn ich hab geborgte Beine
 
und verkauft ist meine Hand
 
und mein Blut kauft man als Weine
 
heut in meinem Vaterland
 
 
Kurtlemann, 1935

Origineel: Den Haag, Literatuurmuseum

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