Fritz Rosenfeld:
Zirkus Charlie Chaplins neuer Film

In verband met de Amsterdamsche première van Charley Chaplin's ‘Circus’ ontvangen wij van onzen Weenschen correspondent het volgende artikel over de voor-opvoering te Weenen in Januari j.l.

Hunderte Millionen Menschen haben über Charlie Chaplins Filme Tränen gelacht. Hunderte Millionen Menschen auf der ganzen Erde lieben den kleinen Mann mit den ausgedrehten Beinen, dem graziösen Bambusstöckchen und dem Melonenhut, wie sie vielleicht keinen andern lebenden Künstler lieben. Dennoch konnte es geschehen, dasz Amerika seinen gröszten Komiker mit dem Bann belegte, weil ein Girl, das er geheiratet hatte, Beschuldigungen gegen ihn erhob; konnte es geschehen, dasz ihm jede Arbeitsmöglichkeit genommen, dasz er wie ein Verbrecher gejagt wurde und man sein Privatleben einer sensationslüsternen Oeffentlichkeit preisgab. Muszte er in den Tagen, in denen es fraglich war, ob er überhaupt jemals wieder würde filmen können, nicht an dem Wert allen Ruhms, an der Bedeutung aller welterobernden Künstlerschaft zweifeln, muszte seine Seele nicht der dunkle Gedanke überkommen, dasz auch er, der Gefeierte, nicht mehr sei als jener Bajazzo, der der Welt seine Späsze vormacht, während sein Herz verblutet, den man belacht, solange er auf den Brettern steht, und verachtet, wenn das bunte Licht der Rampe erloschen?

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Chaplin hatte ein Jahr lang an einem Film aus der Zirkuswelt gearbeitet. Der Zaungast des Lebens, der Unglucksrabe, die arme, geduckte, verschüchterte Kreatur, die er immer darstellt, sollte diesmal Clown sein in der glitzernden Welt des Scheins, sollte neue Abenteuer unter den Menschen erleben, die oft hinter lächelnder Maske bitterstes Weh, hinter dem tollsten Spasz schmerzvollste Verzweiflung verbergen. Als er, nach der Unterbrechung seiner Arbeit, die Aufnahmen zum ‘Zirkus’ fortsezte, muszte sich Persönliches, Persönlichstes in sein Werk mischen. Ganz gegen seine Gewohnheit wurde der letzte Teil des ‘Zirkus’ in gröszter Eile fertiggedreht. Er trägt deutliche Spuren des Erlittenen. Es ist, als wollte Chaplin diesmal nach einer Stunde, in der er sein Publikum mit seinem tieftragischen, köstlichen Witz unterhalten, noch ein paar Augenblicke Aufmerksamkeit für sich selbst erbitten und sich verstatten, am Ende einer Reihe düsterer Scherze einmal zu sagen, wie ihm wirklich zumute ist, und statt der frohen Szene, die man vielleicht erwartet, an das Ende seines neuen Werkes einen trist-melancholischen Ausklang zu setzen.

Der Zufall, der die Schicksale aller Chaplin-Gestalten bestimmt, führt den kleinen Mann diesmal in den Zirkus. Hier wird er, der mit allen Dingen und Menschen seiner Umgebung einen aussichtslosen, leidvollen Kampf führt, unfreiwillig zum Clown. Das Geschick, das über ihm waltet, macht ihn zum ‘komischen Mann’, und was ihm in seiner Seeleneinfalt immer noch tragisches Ringen ist, wird den andern zum Gelächter. Die andern Clowns müssen sich verstellen, um das Publikum zu erheitern; Charlie Chaplin darf bleiben wie er ist, um den gröszten Lacherfolg zu erzielen. Denn alle Komik beruht auf der Schadenfreude des Publikums, und wem geschieht mehr Schaden als dem ewigen Wanderer mit dem engen Röckchen, Jen weiten Hosen, den allzu breiten Schuhen und dem ergebenfinsteren Gesicht....

Man lacht über ihn, weil er den Mechanismus eines Zaubertisches, das Geheimnis des verschwindenden Mädchens enthüllt, weil er durch die Manege purzelt und sich in dieser neuen Welt nicht zurechtfinden kann. Der Zirkusdirektor will ihm auch altbewährte Artistentricks beibringen, aber diese Absicht scheitert. Könnte man ein Pech vortäuschen, das Charlie Chaplin nicht wirklich erlebt? Wenn er in einen Löwenkäfig gerät und der Löwe glücklicherweise gerade schläft, so wird sicher ein überlautes Hündchen Chaplins gefährlichen Gefährten aufwecken. Wenn er für den Seiltänzer einspringt, um dem geliebten Mädchen zu imponieren, so wird der Strick, mit dem er sich in der waghalsigen Situation geholfen, sicher reiszen und zudem noch ein Schwarm von Meerkatzen seine Kleider zerfetzen. Am übelsten spielt ihm der Zufall mit, wenn er Glück zu haben scheint. Steckt ihm einmal ein ertappter Taschendieb seine Beute zu und freut sich der arme Tramp Charlie Chaplin der dickgefüllten Brieftasche und der goldenen Uhr, wird sicherlich der rechtmäszige Besitzer dieser Herrlichkeiten just in dem Augenblick neben ihm stehen, in dem er sich endlich für seinen knurrenden Magen ein biszchen Essen kaufen will. Nur ganz selten meint es dieser tückische Zufall wirklich gut mit ihm. Möchte er gar so gerne durch ein Loch in der Zirkuswand die Wunderdinge betrachten, die dort drinnen vor sich gehen, so kann's schon vorkommen, dasz gerade neben ihm ein Stallknecht niedergeboxt wird, er auf den Körper des Ohnmächtigen steigt und so zu dem Loch hinaufgelangt, das ihm zu hoch war. Als er sich in zitternder Furcht vor einem Polizisten, der ihn verfolgt, unter die mechanischen Figuren einer Schaubude mischtund ihre hölzernen Bewegungen nachahmt, stellt der Zufall den Taschendieb, der ihm soviel Unannehmlichkeiten bereitet hat, neben ihn, und Chaplin kann nun als mechanische Puppe dem Taschendieb, der sich nicht rühren darf, um nicht von dem Polizisten gesehen zu werden, soviel Hiebe mit der Keule versetzen, als er nur mag.

Dieser ‘komische Mann’, auf den immer ein Blitz niederfährt, wenn er seinen Himmel wolkenlos wähnt, ist in seinem Herzen ein Rebell. Aber es fehlt ihm die Kraft, sich gegen den bösen Zufall, gegen die boshaften Menschen, gegen die Macht, die über ihm ist und die er fürchtet, zu wehren. Einer der zahllosen vom Leben Niedergedrückten und Gehetzten ist er, deren Arm aber schwach und lahm vor jeder groszen Tat zurückschreckt. Befreiung von seiner angestauten Wut, von seinem riesengross aufgespeicherten Hasz gegen alle, die schuld sind an seinem Elend, findet er nur in einem winzigen Hieb gegen seine Gegner.

Auf seiner Flucht kommt er in einen Spiegelirrgarten, hundert Chaplins stehen ihm gegenüber, den Hut, den er verloren, findet er nicht, weil hundert Chaplin-hüte auf dem Boden liegen; aber auch der Polizist findet aus den hundert Spiegel-Chaplins den wirklichen nicht heraus, und so kann der wirkliche Chaplin, bevor er weiterflieht, dem Polizisten einen tüchtigen Fusztritt geben, und er trifft den wirklichen Polizisten, nicht eines der hundert Spiegelbilder...

Vom Pech verfolgt, vom Glück genarrt, mit jeder Geste, jedem kleinen Erlebnis den andern Anlass höhnischen Gelächters, Clown wider Willen, Clown aus unfasslicher Schiksalsbestimmung, wird

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Charlie Chaplin, die Stütze des Zirkusprogramms ohne es zu wissen. Erkennt ihr das Gleichnis, ihr Stiefkinder des von Menschen gelenkten ‘Schicksals’, ihr verschüchterten Zaungäste des Lebens, die ihr die Hauptrolle speilt auf dem groszen Welttheater - und denen man nicht zugestehen will, dasz ohne sie das ganze Programm in sich zusammenfiele?

Der Zirkusdirektor hat eine Tochter, die er (aus nicht recht begreiflichen Gründen) bei jeder Gelegenheit miszhandelt. Mitdem hungrenden Mädel teilt der hungrende Clown Chaplin sein einziges Stückchen Brot. Eine kurze Spanne Zeit wähnt er sich geliebt von dem Mädel, kauft schon einen Ring für die Verlobung. Aber die Liebe des schönen, lockenden Geschöpfes gilt nicht ihm, sondern dem eleganten Seiltänzer. Er möchte diesen Seiltänzer niederboxen und sich das Mädel erobern, in fiebernder Vision sieht er sich den starken Mann zum Kampf herausfordern - doch dieser Kampf, dieser Sieg bleibt Vision. Und als Später das Mädel zu ihm, der wieder verjagt wurde in den Wald kommt, ebenfalls verjagt und obdachlos, als er sie vielleicht gewinnen und halten könnte, da führt er sie zurück und vereint sie mit seinem eigenen Rivalen. Was könnte er dem Mädel bieten? Bajazzo des Schicksals, Grimasse in der die Schöpfung sich selbst verhöhnt, darf er den zitternden Arm nicht nach dem Glück ausstrecken. Auszerhalb der Kreise der Glücklichen stehen Menschen wie er; Menschen, die nur leiden. Menschen, die in ihrem innersten Herzen ein geheimes, heiliges Rebellentum tragen. Und so bleibt er auf dem Platze, als die Zirkuswagen zum Aufbruch rüsten, bleibt er im ausgetretenen Kreise der Manege, als sie am horizont verschwinden. Vor einer düsteren Landschaft sitzt er, die die Landschaft seiner Seele ist, und sinnt in bitterer Melancholie. Vielleicht ist ein tiefer Schmerz in ihm, weil er ein ganzklein wenig hoffe, dasz sie doch sein Opfer nicht annehmen, dasz sie ihn dem Rivalen vorziehen würde. Sie hat es nicht getan. Das Plakat zerknittert er das das Zeichen des Zirkus trägt, und wirft es in die Luft. Alles nur Schein, nur Oberfläche. Kein Herz, das so warm schlüge wie seines; in all den schönen Leibern kein Herz, das so menschlich fühlte wie das in seinem kleinen, ungestalten Leib...

Und so wandert er, Clown im Zirkus des Lebens, mit einem leichten Sprung unglücklicher Freude weiter, neuem Abenteuer, neuer Enttäuschung und neuem Leid entgegen.

‘Zirkus’ ist gewisz als Kunstwerk nicht so bedeutend wie ‘The Kid’ oder ‘Goldrausch’. Und doch greift diese Tragikomödie mit ihrer wunderbaren Fülle menschlich-tiefen Humors, mit ihrer stillen, abgeklärten Lebensweisheit, mit ihren verhaltenen Weinen, in dem ein Lachen klingt, mit ihrem hellen Lachen, aus dem ein Weinen klagt, wieder ans Herz wie nur je ein Film Charlie Chaplins.

Weil ein groszer Künstler wieder die Pforten seiner reichen Seele öffnet und den Menschen mitteilt von seinem Ueberflusz - des Gelächters und der Tränen.