H. Richter:
Der moderne Film
VORTRAG GEHALTEN AM 16. II. 1930 IN DER FILMLIGA AMSTERDAM
Als Leser Ihrer Zeitschrift habe ich feststellen können, dass im letzten Jahre einige sehr interessante und aufschlussreiche Vorträge, z.B. von Pudowkin und Eisenstein über die Mittel filmkünstlerischen Ausdrucks gehalten wurden. Ich möchte daher weniger von den eigentlichen Mitteln meiner Filme sprechen, als von den allgemeinen Gesichtspunkten aus denen sie entstanden sind und von dem allgemeinen Entwicklungsprozess zu dem sie gehören. Ich glaube, damit werde ich etwas berühren, was uns alle in Europa mit Ausnahme vielleicht Russlands, das sich anders entwickelt hat, wichtig ist.
Für uns besteht ein Konflikt zwischen der Forderung, an dem Zeitgeschehen mit unseren künstlerischen Arbeiten aktiv teilzunehmen, und unserer traditionellen künstlerischen Aufgabe: einer von diesen Zielen losgelösten Sublimierung der Form.
HANS RICHTER
Der russische Film hat in dem grossen Prozess einer allgemeinen Umwälzung, einer neuen Synthese des Lebens, auch für den Film eine positive und zeitgemässe Form gefunden. Diese Formfindung ist nicht zufällig, sondern symtomatisch. Im russischen Film ist der Begriff der Kunst, wie er in Europa gilt, überwunden. Der russische Film hat praktisch die Aufgabe gelöst, den Film zu einem Instrument der Auseinandersetzung in der Frage grosser menschlicher Probleme zu machen. Während in Russland Kunst nicht anders denn als Mittel objektiver (überindividueller) Stellungnahme gewertet wird, gilt sie doch in der übrigen Welt vielmehr als Mittel subjektiver. Empfindungsäusserung.
Für uns in Deutschland, und mit Schattierungen auch in anderen Ländern, ist aus dem Grunde der russische Film vorbildlich; mit Ausnahme vielleicht Frankreichs, wo sie meines Wissens allein von allen europäischen Ländern ein bürgerliches Leben so intakt erhalten hat, dass die hohe Kunst uneingeschränkt als eine Form subjektivstem Gefühlsausdrucks, wie in der Zeit vor dem Kriege, besteht.
Wir alle in Europa haben eine bestimmte
[76]
künstlerische Entwicklung durchgemacht, die nicht nur einen Bestandteil unseres eigenen Lebens ausmacht, sondern auch zweifellos ein Abbild unserer europäischen Situation ist. D.h. wir fühlen uns einerseits durch unsere Entwicklung zu einer ständigen Auseinandersetzung mit formalen Problemen hingezogen und beurteilen in hohem Grade jedes werk vom ästhetischen Standpunkt aus, anderseits aber sind wir Menschen einer neuen Zeit, die die Kunst nur als eine positive und planmässige Beteiligung an den Aufgaben unserer Generaration gelten lassen können.
Ich scheue mich nicht diesen Zwiespalt offen zu bekennen.
Man hat jetzt in Deutschland einige Filme gemacht, die der Forderung: an der Gestaltung der Probleme unserer Zeit positiv mitzuarbeiten, gerecht werden; Themen aus dem Arbeiterleben, die von anständiger und gerechter Gesinnung sind, waren der Inhalt. Man hat den speziellen Charakter des Russenfilms übernommen und auch eine ähnliche Technik angewandt. Aber diese Filme enthalten nichts von den plastisch-formalen Ausdrucksmitteln unserer Zeit, von der optischen Entwicklung, und liegen in ihrer Formgebung dreissig Jahre zurück. Wir können uns mit einer solchen Lösung nicht zufrieden geben, obgleich wir den objektiven Wert solcher Filme gegenüber dem üblichen Spielfilme anerkennen. Ein solcher Weg bedeutet eine Sackgasse. Die optische Vorstellungswelt, die bei uns im Laufe von Generationen organisch gewachsen ist, aufzugeben, weil etwa der Weg noch nicht gefunden ist, sie an den grossen Aufgaben unserer Zeit zu messen, dass ist keine Lösung. Das Problem ist vielmehr, für unser eignes geistiges Klima auf Grund unserer eigenen künstlerischen Erfahrungen eine Form zu finden. Es ist nicht anders möglich, als dass die direkte Uebernahme des russischen Films bei uns zu Verlogenheiten führen muss. Unser Erfahrungsund Gefühlsleben hat seine eigenen Formen und verlangt seinen eigenen Ausdruck.
Durch Anwendung von Rezepten ist der Konflikt nicht zu lösen. Ein anderer Weg ist von anderer Seite vorgeschlagen worden. Die deutsche Fachpresse hat in bester Absicht immer wieder die Forderung aufgestellt, dass die Avantgarde in der Industrie arbeiten müsse. Die Tatsache, dass wir aber nicht in der Industrie arbeiten, ist nicht auf einen Zufall zurückzuführen. Wenn wir uns nicht der Industrie assimilieren wollen und nicht die Absicht haben uns mit einer Infektion der normalen Filme mit hübschen Bildern zu begnügen, so haben wir in der üblichen Filmproduktion nichts zu tun. Der optische Stil des Spielfilms, als dem normalen Typus, entspricht ganz und gar seinem geistigen Gehalt. Die Tendenz des Spielfilms einen Stoff von Darstellern darstellen zu lassen, den Vorgang hundertprozentig in das Gesicht und die Gesten des Darstellers zu konzentrieren, verlangt eine möglichst objektive Bewahrung dieses Stils, eine naturalistische Form der Wiedergabe. Daraus erklärt sich auch, dass wir heute, trotz des technischen Raffinements des Aufnahmeverfahrens im Film den Naturalismus haben, den wir vor dreissig Jahren bei Beginn des Films hatten. Man kann sagen, dass der optische Stil des Films heute kaum die Zeit des Impressionismus erreicht hat. Es wäre ja auch Unsinn heute z.B. Jannings zu engagieren, um ihn dann in einer so verzerrten Einstellung zu zeigen, dass er aussehe, wie ein ixbeliebiger; oder eine pompöse Dekoration unvollkommen ausgeleuchtet zu photographieren. Wenn man trotzdem mal Schauspieler von unten aufnimmt oder nur eine Lampe in die Dekoration stellt, so tut man das mehr als Konzession an den durch die Russen und die Avantgarde heraufbeschworenen Zeitgeschmack, aber nicht weil man etwa von der Notwendigkeit in dem Zusammenhang überzeugt ist.
Das gleiche gilt von dem Aufbau des Films überhaupt. Man hat zwar die Tempomontage der Russen übernommen, aber im Spielfilm dient auch die Montage logischerweise nur dazu, das Spiel des Schauspielers von verschiedenen Seiten aus zu zeigen. Sie dient seiner Reproduktion nur dazu um besser an den Schauspieler heran, um ihn herumzugehen, dient als Hilfsmittel, um das Spiel des Schauspieler deutlicher zu machen. So verliert die Montage ihren eigentlichen Sinn und ihren eigentlich filmischen Charakter. Im russischen Film ist sie nicht Hilfsmittel. Durch sie entsteht überhaupt erst dort der filmische Ausdruck, der Schauspieler nimmt neben allen anderen Objekten einen relativ begrenzten Platz ein. Sie ist in ihren Höhepunkten ein intellektuelles Ausdrucksmittel geworden, dass imstand ist,
[77]
den Film eine ganz neue Richtung zu weisen. Ich erinnere Sie an diese Göttermontage in ‘Zehn Tagen’ von Eisenstein.
Eine Arbeit innerhalb der Filmindustrie zur Auflösung des oben erwähnten Konflikts kommt also nur sehr begrenzt in Frage, wenn man wirklich produktiv am Film arbeiten will.
Einen weiteren Beitrag zu diesem Konflikt liefern die Autoren, mit denen zum. Zwecke einer positiven Arbeit etwa zusammen zu arbeiten wäre. Im Allgemeinen gehen alle Vorschläge und Manuskripte, auch der jüngsten Autoren darauf aus, Probleme durch den Schauspieler interpretieren zu lassen. Sie schreiben immer noch mehr für das Theater als für den Film. Ich habe dagegen Stellung genommen, aber man hat mich auf den Russenfilm verwiesen, in dem doch auch zum grossen Teil Schauspieler, resp. Personen, Träger der Handlung sind. Mein Einwand dagegen, dass der Schauspieler im russischen Film prinzipiell nicht als Träger der Handlung anzusehen sei sondern in der Montage ein dialektisches Mittel bedeutet, andernfalls aber auch im russischen Film fehlerhaft sei, wurde nicht verstanden. Der Unterschied wurde vielmehr als eine Nuance bezeichnet. Man hält es im allgemeinen nicht für möglich, dem Film eine erschüternde Wirkung zu geben ohne eine durch Personen dargestelte Handlung.
Aber es nicht einmal nötig in jedem Film Erschütterungen von der Art des Potemkin zu erreichen, es ist auch nicht wünschenswert. Wir würden sehr bald gegen solche Eindrücke abgestumpft sein. Die menschliche Natur hat viele Wege auf denen man zu ihr gelangen kann, von der stärksten Dramatik bis zur empfindsamsten Lyrik. Ein Teil der Generallinie, die Scenen mit dem Milchseparator, haben eine Formgebung, die weder mit Naturalismus noch Realismus etwas zu tun haben. Diese Scenen sind dichterisch frei, weder beschreibend noch symbolisch, sondern ganz einfach Poesie. Die Gewalt, die von diesen Stücken ausgeht, ist nicht attraktiver Art, nicht erschütternd, atemraubend, potemkinisch etwa, sondern einfach verführerisch, bezaubernd im wahrsten Sinne. Ich habe dieses Beispiel aus Eisenstein gewählt, um einen Kronzeugen dafür zu haben, dass selbst, wenn (wie bei den Russen selbstverständlich ist) auf Massenwirkung abgezielt wird, der Stil doch keineswegs populär zu sein oder sich anzupassen braucht, sondern sehr gut Ansprüche stellen kann.
Welche Versuche auch gemacht werden, um zu einer entsprechenden Lösung des Konflikts zu kommen, es wird sich immer um zwei Entscheidende Punkte handeln, nämlich den: den Film nur mit seinen ureigenen Mitteln aufzubauen, mit anderen Worten, ihn in jedem kleinsten Teil von einer reproduktiven Kunst zu einer produktiven zu machen. Wie oft hat man nicht marschierende Soldaten im Film gesehen. In Sturm über Asien hat Pudowkin eine ausserordentlich glückliche Lösung für einen bisher scheinbar nie geformten Vorgang gefunden. Er nahm das Antreten und Umdrehen der Soldaten durch Zeitlupe, dann später das Marschieren durch Zeitraffer auf. Eine solche Formung des Vorgangs hat mit einfacher Beobachtung nichts mehr zu tun und bedeutet richtige und freiste Anwendung der eigentlich filmischen Mittel.
Die Aufgaben dazu beginnen bei dem allereinfachsten. Ich hatte in einem Tonfilm ‘Alles dreht sich’ einen Mann zu zeigen, der ein verlorengegangenes Mädchen sucht und verfolgt. Ich habe versucht das durch Schwenken der Apparatur, Schwenken des Kopfes und rythmischen Dazwischenschnitt von ein paar laufenden Beinen zu lösen. In jedem Falle habe ich vermieden, das Hin- und Hergehen, das im Film naturgemäss eine sehr grosse Rolle spielt, einfach naturalistisch ‘stehen’ zu lassen.
Aber, ob es sich um den reinen Dokumentfilm handelt, wie zum Beispeil die ‘Brücke’ von Ivens, oder um attraktive Filme, solche, die auf eine direkte Erschütterung abzielen, ist gleich: es kann sich immer nur darum handeln, die Dinge in ihrer filmischen Form zu erfassen, nicht aber nur sie festzuhalten. Nur, wenn wir der Forderung gerecht werden, den Film ausschliesslich aus hundertprozentigen filmischen Mitteln aufzubauen, können wir den Film schliesslich zu einer universellen, jeden Gedanken und jedes Gefühl tragende Sprache machen. Zur Erreichung dieses Ziels ist die Arbeit der Avantgarde wie sie war und wie sie ist eine Notwendigkeit. Ich glaube damit den einen Teil des Gebiets, wie ich es sehe abgegrenzt zu haben. Der andere Teil besteht in der Auseinandersetzung, die wir notwendigerweise mit der dialektischen Methode unternehmen müssen, um imstande zu sein, die von
[78]
uns technisch beherrschten Mittel mit Aussicht auf eine direkte und gewünschte Wirkung anzuwenden. Der bisherige Spielfilm hat es ausgezeichnet verstanden, gewisse sentimentale Affekte im Beschauer hervorzurufen. Man kann von einer Standardisierung der Beeindruckungsmomente sprechen, die vom sterbenden Kind, dem ‘sonny boy’ etwa, bis zum liebesverzückten Frauenauge gehen. Die Russen haben, anstelle der sentimentalen, eine neue und echtere Skala der Affekte geschaffen. Sie verstehen es, Empörung über Ungerechtigkeit, Solidaritätsgefühl, überhaupt sociale Affekte auszudrücken und zu erwecken.
Das Studium der dialektischen Methode, dass in Russland in jeder Kinderschule betrieben wird und ja überhaupt die Grundlage des sowjetistischen Denkens bildet, ist als künstlerische Methode auch unerlässlich für uns, wenn wir zu einer genau berechneten Wirkung unserer Bilderreihe kommen wollen und uns nicht mehr auf das bessere oder schlechtere Spiel unserer Schauspieler zu verlassen wünschen.