Max Nettlau
Bemerkungen zur Einheit von Ost und West in B. de Ligts Auffassung

Ausserhalb der Diktaturgebiete, die seit 1917 entstanden, macht die in früheren Jahrhunderten erkämpfte relative Geistesfreiheit es einzelnen Personen noch möglich, ganz in einem ihnen lieb gewordenen Gedankenkreis zu leben. Man kann sich mit anarchistischer, sozial-demokratischer, kommunistischer, pazifistischer, aesthetischer und sonstiger Literatur einer bestimmten Richtung umgeben, sich an deren Fortschritt erfreuen und das übrige Weltgetriebe aus dem Auge verlieren. So hat sich nach meinem Gefühl B. de Ligt mit der zweifellos vorhandenen, Ost und West im Gedanken, in der Hoffnung, in der Vision verbindenden Literatur umgeben und lebt in diesem ihn mit Freude erfüllenden Gedankenkreis. Aber gewinnt dadurch seine Auffassung eine Realität? Nicht dass ich eine der Wirklichkeit vorauseilende glühende Aspiration eines ersehnten Zustandes verwerfen würde: aber eine solche muss immer in der Wirklichkeit eine feste Grundlage besitzen, aus der heraus eine neue Entwicklung sich bereits anbahnt. Kann man dies von dem gegenwärtigen Verhältniss von Ost und West wirklich behaupten, hat B. de Ligt dies überzeugend bewiesen?

Ist nicht gegenwärtig auf der ganzen Linie der heftigste Kampf des kapitalistischen Westens gegen den teils dem Kapitalismus widerstrebenden, teils den eigenen nationalen Kapitalismus wünschenden Osten in Vorbereitung, im vollen Gange oder zeitweilig durch Niederwerfung des Ostens beendet, ohne dass das westliche Völkergewissen sich in nennenswertem Grade beunruhigt fühlte? Man bereut längst bitter, dass man seinerzeit Japan die Möglichkeit gab, sich modern zu bewaffnen und industriell auszurüsten; die dem Orient nächsten Weissen, Australien und New Zealand sind Japan und Chinas bitterste Feinde, ebenso die Vereinigten Staaten; und England fühlt sich längst von Japan in Asien bedroht. In Indien sind Gandhi's humanitäre Ideen durch den reinpolitischen Nationalismus überholt und alle wissen, dass ein von Europa absolut getrenntes, mit China, Japan und vielleicht Sibirien eine asiatische Welt bildendes indisches Nationalreich das Ziel ist. Frankreich

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herrscht von Cochin-China bis Marocco und zum Sengal, überall als militärische Despotie empfunden. England will den Nil von Abessynien und dem Sudan bis Ägypten in den Dienst seiner Kapitalisten stellen und ist dadurch von allen Völkern jener Länder mehr als je getrennt. Italien wünscht sich in Abessynien, am Roten Meer, in Arabien, in Kleinasien einzuwurzeln, - Syrien und Palästina, Mossul und Mesopotamien wurden den einheimischen Völkern im Interesse europäischer Pläne entrissen, Persien vegetiert nur noch, wie auch der englisch-französische Pufferstaat Siam; Singapore als englische, die Phillipinen als amerikanische Flottenbasis bedrohen Japan. In Holländisch-Indien liegt augenblicklich für das europäische Publikum das Schweigen des Grabes über der Repression der sozial-nationalistischen Empörungsversuche. Nach China oder in seine nächste Umgebung ist eine riesige englische Armada unterwegs. Syrien und das Riff (Marocco) liegen zu Boden. In früheren Jahrzehnten durchlebten wir die Tragödien des Sudan, Madagascars, des Congo, der Herero, der Zulu, Maroccos, Persiens, Koreas und die unsagbaren Leiden der innerafrikanischen und anderer Kolonie Eingeborener, vorher die Ausrottung der neuseeländischen Maoris, die indischen und chinesischen Rebellionen, die Opiumkriege, Atjeeh, u.s.w. Hat Europa und Amerika je zum Orient anders gesprochen als durch den profitgierigen Kaufmann, den Kultur und Wesen des Orients missachtenden Missionar, jede Art der Eroberung von der Einschleichung durch Vertragshäfen zur absoluten Unterwerfung, und durch jede Art blutiger Repression mit dem Ziel der Verewigung der Knechtschaft des Orients im weitesten Sinne, Afrikas, Asiens, und Ozeaniens; wohin ist das glückliche Tahiti der vor-europäischen Zeit, das Entzücken des achtzehnten Jahrhunderts der Zeit Diderots!

Europa setzt also bis zu dieser Stunde dem ganzen Orient gegenüber mit den modernsten Mitteln genau die spanischen Conquistadorespolitik fort, durch welche die amerikanischen Ureinwohner teils vernichtet, teils bis heute geknechtet, teils an die Urwälder und die primitivste Lebensweise gefesselt wurden: dies ist das Schicksal aller orientalischen Völker, auf die der Kapitalismus Hand legen kann, falls sie nicht durch blutigen Widerstand oder durch ihre Millionenmassen ihm einigen Halt gebieten, worauf der Kapitalismus im Interesse seiner Geschäfte es auch, wie man sagt, ‘billiger gibt’, dass heisst mit grossen Worten möglichst kleine Zugeständnisse macht, wie es jetzt vielleicht in China geschehen wird. Was ist dem gegenüber das Detail, dass ein Japaner über Botticelli schrieb? Schreiben nicht hunderte, tausende gelehrter europäischer Orientalisten seit Jahrhunderten über alle Wissensgebiete des Orients ohne dass dies an den hier skizzierten Verhältnissen das geringste änderte? Nun geht aber B. de Ligt nicht nur an der geradezu entsetzlichen wirklichen Lage schweigend vorüber - er scheint sogar die Teilnahme Japans und Chinas am Weltkrieg als eine Errungenschaft zu betrachten - sondern er beruft sich, unter der Rubrik ethisch, auf die Bewunderer der Negertänze und das ‘verfijnde bewustzijn’ gewisser Künstler, welches ‘door den onbewusten stijl van afrikaansche godenbeelden dieper getroffen wordt dan door de classiek-europeesche schoonheid der Venus van Milo’. Gewiss bestreite ich keinem Künstler das Recht, in der sogenannten ‘hottentottischen Venus’ oder den verschiedenen jetzt ausgegrabenen prähistorischen Frauenplastiken, die man die ‘Venus’ von so und so, (dem Fundort) zu nennen pflegt, sein Schönheitsideal zu finden, aber ich erlaube mir die Behauptung, dass derartiges selbst heute noch eine ziemliche Ausnahme ist und ebensowenig beweist als die mir wesentlich sympatischere japanische Monografie über Boticelli.

Wir haben im späteren Rom - und im späteren Babylon und in anderen im Niedergang begriffenen Städten wird es nicht anders gewesen sein, - das traurige Beispiel allzugrosser Mischung von innerlich verschiedenem, wodurch eben keine Erneuerung, kein Aufschwung entsteht, sondern Kraftlosigkeit, Sterilität, Niedergang. Der Mithrasdienst und vieles andere, das Christentum selbst, bedeuteten eben den definitiven Verfall Roms, den schon das eindringende Griechentum vorbereitet hatte, wie dieses Griechentum selbt in Alexandrien und dem übrigen Orient entartet war, wie der Orient Alexander und die kräftigen Macedonier verschlang. Opium, Negertänze, Occultismus, sexuelle Rafinements, die man dem heutigen Orient und Afrika entnimmt, sind krankhafte Aufpeitschungen blasierter Sinne und der Orientale lacht nur, wenn er die Europäer gerade seine schwächsten Seiten krampfhaft nachmachen sieht.

Gewiss haben idealdenkende Männer, die aber in die wirkliche Freiheit kein Vertrauen hatten, zu allen Zeiten sittliche Utopien geschrieben, die sie aus eigenem Glauben oder um ihnen Autorität zu verschaffen, unter die Aegide von Göttern stellten - die Bibel und die lange übrige Serie der ‘Sacred Books of the East’ - und notwendigerweise enthält diese rein utopische Literatur, wie alle Utopien, viel gemeinsames. Ebenso sicher war und ist aber das wirkliche Leben von den idealen Forderungen - wozu brauchte man sonst diese? - grundverschieden, und dies wiegt schwerer als die aus diesen vereinzelten Kunstprodukten erschlossene Einheitlichkeit des geistigen Lebens. Dasselbe gilt von den Staatsmethoden, dem auf dem Volk lastenden Zwang; ein chinesischer und ein europäischer Staatsmann, General oder Henker mögen sich zulächlen wie zwei Auguren: für die Völker selbst beweist die gemeinsame Staatskrankheit ebensowenig wie irgend eine andere gemeinsame Krankheit. Auch die kapitalistische Produktion, internationaler Handel und Wandel bringen diese und jene mechanischen Änlichkeiten hervor, Literaten, Journalisten, der Massenkunstbetrieb, einige Moden mögen sich assimilieren, aber die Völker ignorieren dies oder blassen zu farblosen Gebilden ab: Menschenschemen, die von der internationalen Grossproduktion mit gleichen Kleidern behangen und mit gleichen Konserven, Zeitungen, Kinos, u.s.w. körperlich und geistig gefüttert werden.

Es müsste unser allernächstes Ziel sein, Freiheit und Gerechtigkeit schneller zu begründen, bevor die Mensch-

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heit, Ost und West, dieser ihr Wesen auslüschenden Verindustrialisierung zum Opfer fällt. Und unsere nächste Aufgabe, die Mittel und Wege hierfür zu finden. Bevor wir an Ost und West denken, fragen wir uns, ob wir selbst auf der Höhe sind, andere zu belehren und ob wir selbst auch nur unsere nächsten Nachbaren kennen. Beides ist in leider steigendem Grade nicht der Fall, woran wieder einige wenige Ausnahmen, einige noch so schöne Bücher, nichts ändern. Mehr als je zuvor geschicht heute in jedem Land, West und Ost, himmelschreiendes Unrecht, mehr als je sind die Vülker, grosse und kleine, verfeindet und wollen einander nicht kennen lernen und was dagegen geschicht, ist derart geringfügig, dass nicht abzusehen ist, wie solche Bemühungen grösseren Umfang erreichen sollen. Mehr als je gibt es dieselben drei Kategorien von Menschen, die schärfer getrennt sind als ökonomische Klassen, herrschende, besitzende und geniessende, die den ihre Vorherrschaft sichernden physischen und geistigen Zwangsapparat dirigieren, den ihre Knechte im einzelnen handhaben - Volksmassen, die immer wieder der Gewalt oder den Lockrufen und Täuschungen jener zu Willen sind - und die wenigen und meist zersplitterten freien Männer und Frauen, die die Menschheit auf den Weg zu Freiheit und Glück weisen möchten. Hier muss von Anfang an gearbeitet werden, an Ort und Stelle, von der einfachsten lokalen Angelegenheit an, im Sinn der Selbstbefreiung und des Erwachens zu geistiger Arbeit, der Kenntnis erst des Näheren, in Europa also der europäischen Völker. Erst in weiter Ferne liegen da die Ost- und Westbücher einiger geistiger und aesthetischer Gourmands, die B. de Ligt interessant vorführt.

Dem Orient aber können wir jederzeit ganz anders als durch all solche Bücher nähertreten, wenn wir unsere Stimme erheben gegen das Unrecht, das ihm von uns geschicht; wir verwerfen die Westzüge Attilas und Tamerlans, aber wir verherrlichen die Ostzüge Alexanders, der Kreuzritter bis zur heutigen unter begeistertem Beifall erfolgten Einschiffung der englischen Regimenter nach China. Diese absolute Ungerechtigkeit, dieses doppelte Mass fühlt jeder Orientale und darum bleibt ihm der Europäer so fremd und feindlich, wie dem roten Indianer Nordamerikas der weisse Mann, der ihm mit tödlicher Sicherheit unaufhaltsam vordringend, das Land wegnahm und seine Lebensbedingungen zerstörte. Glaubt jemand, dass Gandhi oder alle andern zur Weltbetrachtung erwachten Asiaten und Afrikaner dies nicht fühlen, wenn es jedenfalls das in jedem Kind jener Weltteile sich instinktiv bildende Gefühl ist?

Darum kehren wir zur Wirklichkeit zurück, wie schön auch die Utopien sind, die jede Richtung in ihren Büchern finden kann.

5. Februar 1927.



illustratie
V. HUSZAR
RECLAME PAV. PIER SCHEVENINGEN