Ludwig Grote
Bühnenkompositionen von Kandinsky
Bereits 1912 hat Kadinsky in einem Aufsatz über Bühnenkompositionen die Gedanken ausgesprochen, deren Verwirklichung ihm jetzt durch das Verstàndnis und die Initiative des Intendanten Dr. Hartmann vom Friedrichtheater in Dessau möglich gemacht worden ist.
Mit der Erkenntnis der Autonomie der Künste, deren jede ihre eigene Sprache spricht und ein in sich geschlossenes Reich ist, war zugleich auch die innere Verbundenheit der Künste, ja ihre Identität entdeckt. Es mußte der Weg in die Tiefe gegangen werden, in das Reich in dem alle Künste ihren Ursprung haben, aus dem sie aufsteigen und Blüten treiben, jede nach ihrer Art. In jenem Reich liegt die Wurzel für die Einheit aller Künste. ‘Die Mittel verschiedener Künste sind äußerlich vollkommen verschieden: Klang, Farbe, Wort!...Im letzten innerlichen Grunde sind diese Mittel vollkommen gleich: das letzte Ziel löscht die äußeren Verschiedenheiten und entblößt die innere Identität.’
Von dieser Ueberzeugung aus muß die Stellvertretung der Künste untereinander, die zuerst die Romantiker empfunden haben, als möglich erscheinen. Das Gesamtkunstwerk, die große Idee Richard Wagners, gewinnt damit einen neuen, tieferen, geistigeren Sinn.
Mit der Abstraktion der Malerei, dem Verzicht auf Darstellung und die Rückführung auf ihre eigensten Mittel, hat für Kandinsky die Malerei die Stufe der Musik, der reinsten, der absoluten Kunst erreicht und damit die Fähigkeit erlangt, die Klänge durch Farbe auszudrücken. Das Bild ist durch seine Fixierung auf der Fläche notwendig zeitgebunden, erst die Bühne gibt die Möglichkeit, das wesentliche Element der Musik: die Bewegung - für Formen und Farben einzuführen und ein musikalisches Geschehen als ein malerisches darzustellen. Das ist das theoretische Fundament der Bühnenkompositionen von Kandinsky.
Die Wahl von Moussorgskys ‘Gang durch eine Ausstellung’ barg die Gefahr des illustrierenden Ausdeutens des Musikalischen im alten Sinne in sich. Moussorgskys Werk gehört wohl zur Programmmusik des 19. Jahrhunderts, aber das Programm ist bei Moussorgsky wie bei jeder guten Musik nur ein Oberflächenschmuck, das absolut Musikalische überwiegt das Illustrative. Das stark ausgeprägte volkliche russische Element führte als wesens- und stammverwandt Kandinsky zu Moussorgskys Werk. Dabei boten die reiche Farbigkeit und die Vielfältigkeit der Kontraste der in sich selbständigen Teile des Werkes Anregungen zu sehr verschiedenartigen Bühnenkompositionen. Entsprechend den zehn Teilen des Werkes von Moussorgsky, die von einer Einleitung und Zwischenspielen, ‘Promenaden’ betitelt, gerahmt werden, hat Kadinsky seine Bühnenbilder geschaffen.
Wegen der Neuartigkeit des Versuches können die Abbildungen der Entwurfsskizzen keine Vorstellung von den Bühnenvorgängen geben, zumal ihnen das Wesentliche, die Bewegung, fehlt. Unter Verwendung der Regiebemerkungen von Kandinsky soll deshalb eine kurze Beschreibung der gelungensten Kompositionen gegeben werden.
Die Einleitung - ‘Promenade’: Langsam senkt sich von oben ein Kreis vor den schwarzdunklen Bühnenhintergrund, er beginnt langsam Rot aufzuleuchten und erkaltet wieder. Bei dem 3. Bild fand derselbe Vorgang statt, nur färbte sich der Kreis Blau, als Schlußbild erschien er als starkes Rot, das allmählich erlosch.
ABB. 1. ‘GNOMUS’
‘Gnomus’. (Abb. 1) Der Entwurf ist dahin zu ergänzen, daß die obere und untere Fläche nicht weiß, sondern schwarz waren. Der Hintergrund schwarz mit grünem Licht. Das Bild baute sich in folgender Reihenfolge auf: 1. die horizontalen Streifen leuchten auf und gehen aus, 2. die vertikalen Streifen - die kleine schwarze Figur erscheint, 4. der Kreis und schließlich das ganze Bild.
ABB. 2. ‘KATAKOMBE’
‘Katakombe’ (Abb. 2) Weißgrünlicher Hintergrund. Reihenfolge: entsprechend ihrer Größe bauen sich die Formen auf, von links und rechts bewegt, bis sich schließlich der große Bogen von oben herabsenkt und die kleinen roten und grünen Quadrate aufleuchten.
Auf die innere Problematik des Versuches und die Zweifel und Fragen, ob Musik und Bühnenbild adäquat als Ausdruck des gleichen inneren Vorganges empfunden wurden, kann hier nicht eingegangen werden. Die Verbindung von Bühne und Musik war keine mechanische Verkoppelung, wie bei den ersten Versuchen, Film und Grammophon zu vereinen. Nicht die Metrik des Taktes war maßgebend, sondern die überlagernde Rhythmik des einzelnen Stückes. Bei den oben angeführten Kompositionen leuchtete die Identität der malerischen und musikalischen Mittel in der Tat auf, und die Musik erhielt geradezu einen neuen Sinn. Der Weg ist für den Künstler und erst recht für den Zuschauer und -hörer fremd; denn er verlangt die doppelte Einstellung auf Ohr und Auge.
Davon abgesehen waren die Bühnenkompositionen an sich durchaus überzeugend. Kandinsky ist tiefer in das neue Land vorgestoßen als es Laszlos, Hirschfeld und Macke vermocht haben. Die Leistung war genial und bewunderungswürdig für den ersten praktischen Versuch. Die Verwendung der Bühne und ihre Mittel mußten geradezu neu entdeckt werden. Ihre bisherige Verwendung liess solchen Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten garnicht ahnen. Die Formen erschienen nur als Flächen, der Bühnenraum wirkte durch den schwarzen Hintergrund und durch die Beleuchtung ganz irreal, wie der Raum auf den Gemälden Kandinskys. Neben die Bewegung der Formen trat als Zeitmoment die Beleuchtung und gab eine vielfältige und reiche Skala von Klangstärken.
Die Wirkung einzelner Vorgänge war gross und magisch: das Herabschweben des Kreises vor dem geheimnisvollen Dunkel, sein Aufglühen und Erkalten - oder die Bewegung eines weißen Rechteckes über die Bühne. Unvergeßlich war das Herabschweben des Bogens bei den Katakomben. Man erlebte die Dramatik, den Wirkungsgrad von Formen und Farben. Das Schweben, Gleiten und Stehen der Formen, der Wechsel der Farben nach Art und Intensität erschien als ein dramatischer Vorgang voller Spannungen. Das Bild war in ständiger Bewegung, und jeder Augenblick wurde bildmäßig erlebt, und der Augenblick, in dem die Bewegung zum Stillstand kam, der Aufbau der Komposition abgeschlossen wurde, war ein dramatischer Höhepunkt. Die Verwandtschaft mit der künstlerischen Form des Dramas an sich enthüllte sich hier in ganz überraschender Weise.