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DIE SYMBOLIK DER ARCHITECTUR THE SYMBOLISM OF ARCHITECTURE LA SYMBOLIQUE DE L'ARCHITECTURE

WASSENAAR (HOLLAND)
WASSERTURM - WATERTOWER - CHATEAU D'EAU EHREN-EINGANG - GATE OF HONOUR - PORTE D'HONNEUR


Rudolf von Laban
Tanz und Musik

Wir stehen heute nicht mehr auf dem Standpunkt, dass der Tanz - der Bühnen- und Kunsttanz - unbedingt musikbegleitet sein muss. Noch vor 25 Jahren konnte man es sich nicht vorstellen, dass wir einmal so weit kommen könnten, dass Tanz ohne Musik - stummer Tanz - wirksam gemacht werden könnte. Man war gewohnt, den Tanz als Balletteinlage zu sehen, oder wenn Tänzer in Einzeltanzabenden auftraten doch stark die Anlehnung an den Theatertanz zu suchen, im Tanz eine Musikinterpretation zu sehen.

Der Tänzer suchte sich aus der Musikliteratur ein Stück heraus, das starke rhythmische Elemente hatte, oder das einen präzisen Ausdruck übermittelte, und er versuchte diesen Rhythmus oder diesen Ausdruck seinerseits in der Bewegung darzustellen. Bei der Beurteilung der tänzerischen Leistung standen dann Gesichtspunkte im Vordergrund wie: Der Tanz war sehr musikalisch; der Tanz war gefühlvoll; die Rhythmen kamen

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BRANCOUSI 1926 BRONZE POLI

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gut zur Wiedergabe; usw. Der Tanz wurde also unter rein-musikalischen Gesichtswinkeln betrachtet. Man wusste nicht, dass der Tanz ganz andere Elemente des menschlichen Seins verkörpert und wiedergibt als die Musik. Man wusste erst recht nicht, dass der Tanz seine eigenen Harmonie- und Wirkungsmöglichkeiten hat.

Das musikalische Kunstwerk spricht im wesentlichen zu dem Gefühlsleben des Menschen. Als wirkungsvoll empfinden wir es wenn es in uns Gefühlssaiten anklingen lässt, wenn wir eine Bereicherung unseres Gefühlslebens durch den musikalischen Genuss erfahren.

Man ging in der Interpretation der Musik durch die tänzerische Darstellung schliesslich so weit, dass man Musikwerke, die völlig in sich geschlossen sind, noch durch tänzerische Ausdeutung anschaulich machen wollte. Durch dieses Unterfangen kam man dann aber darauf, dass Musik letzten Endes doch nicht mit dem Bewegungserlebnis identisch ist. Bei einer Symphonie oder Sonate z.B. reichte die Bewegung nicht aus, um den Inhalt der Musik überzeugend darzustellen. Aber es gab andererseits Musikwerke, die durch die Bewegung erst wirklich an Wert und Kraft gewannen; es wurde dort in der Bewegung mehr gesagt, als in der Musik gesagt werden kann.

Der ganze Aufschwung, den der Tanz in den letzten Jahren nahm, brachte aus diesen Erkennntnissen heraus dann eine völlige Umstellung. Gleichzeitig wurde auf dem Gebiet der absoluten Bewegung, sowohl in Bezug auf die Gymnastik - die dem Zweck unterstellte Bewegung - wie in Bezug auf die reine tänzerische Bewegung geforscht. Man trat der Bewegung als einer primären Erscheinung allmählich nahe, und fand dass die Bewegung garnicht die Anregung und die Unterstützung durch die Musik nötig hat, sondern dass sie selbst zu so grosser Wirkung gesteigert werden kann, dass die musikalische Begleitung unterbleiben kann. Allerdings waren es andere Werte, die in den Bewegungswerken geformt wurden als in den musikalischen.

Es war nicht das Gefühlsleben, dass durch die Bewegung in erster Linie angeregt wurde sondern die Gewalten im Menschen, das Wollen, die triebhaften Strömungen. (Zu bemerken ist zu dem Wort ‘triebhaft’, das darunter nicht das zu verstehen ist, was gemeinhin mit diesem Wort als verachtenswert und unschön abgetan wird. Jede Veranlagung im Menschen hat eine positive und eine negative Seite, und im Bewegungskunstwerk soll gerade diese positive Seite der Triebwelt zur Wirkung kommen.)

Dieses Leben und Wogen der Gewalten ist nur durch die Bewegung darzustellen. Worte oder Töne - Verstand und Gefühl - können sie nicht fassen. Das Mitschwingen mit der Bewegung, die der Zuschauer sieht, löst in ihm die gleichen Bewegungsschwingungen aus, er erlebt im eigenen Körper, was der Tänzer auf der Bühne darstellt. Dieses Mitschwingen musste das Publikum der letzten Jahre erst lernen; nach einem Zeitalter der völligen Unbewegtheit war ihm die Fähigkeit Bewegung mitzuerleben abhanden gekommen. Daher war die Musikbegleitung zum Tanz zunächst eine Notwendigkeit, und ist es zum Teil noch heute. Der Zuschauer hat es noch nicht ausreichend gelernt, wirklich selbst fast aktiv mitzuerleben, was auf der Bühne dargestellt wird. Die Musik ist heute als Stimulanz noch oft unentbehrlich. Es ergibt sich hieraus eine grosse Schwierigkeit für den heutigen Tänzer. Er hat es erfahren und gelernt, dass der körperliche Rhythmus, der Bewegungsrhythmus, nicht identisch ist mit dem musikalischen Rhythmus, er weiss, dass er nicht ohne Weiteres eine Musik ‘vertanzen’ kann. Aber wie soll er dem Publikum, das den Bewegungsrhythmus noch nicht zu spüren vermag, eine Brücke zum Verständnis bieten? Die beste Möglichkeit ist die, dass er einen Komponisten veranlasst, nach der Bewegung - nach seinem Tanzkunstwerk - die Musik zu schaffen, die Bewegungsrhythmen, die er tanzt, in der Musik wiederzugeben, sodass dem Publikum, das uur auf akkustische Rhythmen zu reagieren vermag, durch die Musik die Bewegungsrhythmen vermittelt werden. Aber wie wenig Komponisten gibt es heute, die sich so weit für die Bewegung interessieren, dass sie dazu fähig wären? Ganz zu schweigen davon, dass ein Komponist selbst eine Bewegungsschulung durchmacht, um in den Geist der Bewegung voll einzudringen. - So ist auch heute noch der Tänzer häufig noch darauf angewiesen schou bestehende Musikstücke als Grundlage seiner Komposition zu nehmen. Ein Be-

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helf zwar, aber ein unabwendbarer, so wie die Dinge heute liegen! -

Es bleibt nun noch eine Frage offen: Wie soll sich der Tanzkomponist bei der Verarbeitung solch einer vorhandenen Musik verhalten? Wo ist die Parallele gegeben und vorgezeichnet, in die er seine Bewegung zur Musik stellen muss? - Ganz klar ist es, dass er nicht zu einer temperamentvollfröhlichen Musik elegische Bewegungen machen kann. Diese krassen Unterschiede wird jeder Mensch ohne Weiteres erkennen. Aber wie soll er die Feinheiten der Harmonie- und Melodieführung wirklich lebendig machen, ohne ein Abklatsch der Musik zu werden? - Hier setzen die Werte der Bewegungsharmonielehre am deutlichsten und klarsten ein. Das Bestehen einer solchen Harmonielehre und Gesetzmässigkeit in der Bewegung ist heute nicht mehr zu leugnen, sie ist schon zu klar erkannt. - So wie die musikalische Entwicklung durch die Reihe der Jahrhunderte nur möglich war an Hand einer sehr strengen und klaren Harmoniefestlegung, so wird auch die Bewegungskunst nur zu einer Reife gelangen durch die Schulung an den Normen einer ganz klar aufgezeichneten Bewegungslehre, durch die Beschränkung zunächst wird der Reichtum für die Zukunft gewährleistet. Wir stehen noch im Anfange der Erforschung dieser Bewegungsharmonien, aber die Anfänge sind klar und fest gefasst, und die Zeit wird sie ausreifen und ihre Ausschöpfung fördern.

Um einige Punkte dieser Harmonielehre zu fassen und verständlich zu machen, möchte ich im Folgenden einige Parallelen zur musikalischen Harmonielehre ziehen, da diese allgemein so weit gekannt wird, dass durch die Parallelstellung vielleicht auch ein Verständnis für die Raumharmonielehre möglich wird:

MUSIK: BEWEGUNG:
 
Zwölf Töne kennt die Musik.
Drei Töne gehören zum einfachen Akkord.
Zwölf Raumneigungen kennt die Bewegung.
Drie Richtungen geben die einfache harmonische Stellung. (Führender Arm, Schwebender Arm, schwebendes Bein; das Standbein ist immer senkrecht und spielt deshalb im Ausdruck keine Rolle.)
 
In der Musik lässt sich der Akkord manigfaltig erweitern. In der Bewegung können mannigfaltige Sonderstrebungen des Rumpfes, Kopfes, der Hände usw. den Akkord erweitern.
 
In der Musik ist das eingestrichene C eine Wiederholung des zweigestrichenen. In der Bewegung erscheint die gleiche Raumneigung als zentrale (durch den Mittelpunkt des Körpers genend) und als peripherische (am Körper vorbeiführend).
 
In der Musik reihen sich die Töne nach ganz bestimmten Gesetzen der Schwingungszahl zu einer Skala aneinander. In der Bewegung reihen sich die Raumrichtungen entsprechend der Abweichungswinkel zu verschiedenen Skalen zusammen.
 
In der Musik gibt es Skalen (Tonleitern) die einen Dur-Charakter oder einen Moll-Charakter haben. In der Bewegung unterscheiden wir Skalen, die aktiv (Dur) und solche die passiv (Moll) sind.
 
Durch die Uebereinstimmung eines Tones in zwei verschiedenen Akkorden ergibt sich in der Musik die Möglichkeit, von einer Tonart in die andere hinüberzumodulieren. Die gleiche Modulationsmöglichkeit haben wir in der Bewegung durch die Gleichheit einer Raumrichtung in verschiedenen Skalen.
 
In der Musik kennen wir Akkorde, die voll, und solche, die hohl klingen. In der Bewegung kennen wir Raumspannungen, die labil und fliessend erscheinen und solche, die stabil und starr sind.

Wir sehen also, dass es eine ganze Reihe von Parallelen in der Harmonielehre der Musik und der der Beweging gibt. Vielfach begegnet man heute nach solch rührenden Vorstellungen von der Parallelität in Musik und Bewegung, dass einfach das Auf und Ab der Töne mit dem (räumlichen) Hoch und Tief der Bewegung gleichgesetzt wird, und eben ganz einfach ein hoher Ton durch eine hochgerichtete Bewegung gedeutet wird und

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ein tiefer Ton den Körper bis zur Erde hinunterdrückt. Solch eine Gleichsetzung ist natürlich unmöglich, denn in dem Fall würde man die Musik sozusagen als eindimensional nehmen und vergisst, dass die Bewegung dreidimensional ist und nicht auf so primitive Weise der Musik gegenübergestellt werden kann.

Die Gesetze der Raumharmonie erschöpfend zu behandeln, ist hier natürlich nicht am Platz, denn es ist ein so weites Gebiet, dass schon ein intensives Studium dazu gehört. sie wirklich ganz zu erfassen. Aber es würde sich gewiss besonders für Komponisten von Balletten und Tanzwerken lohnen, einen Einblick in diese Fragen zu gewinnen.

Zu erwähnen ist noch, dass es auch gelungen ist, im Verfolg der Arbeiten über die Harmonie der Bewegung zu einer endgültigen Lösung der Frage der Tanzschrift durchzustossen, und zwar zu einer Lösung, die nicht mehr verlangt, dass der Tanzschreiber auch die ganze Harmonielehre beherrscht, sondern nach kurzer Betrachtung dessen, was die primären Bedingungen zum Zustandekommen einer Bewegung sind, ist die Schrift leicht erlernbar, genau so wie auch jeder Notenschreiber nicht die tieferen Zusammenhänge der musikalischen Harmonien kennen muss, wenn er nur weiss, was ein ? und ein ? usw. bedeutet.

Aus den eingangs erwähnten Dingen der Entwicklung ergeben sich noch einige Schwierigkeiten, an denen die neue Tanzkunst krankt. Dadurch dass früher der Tanz ganz und gar mit der Musik verquickt war, sind noch heute fast alle Tanzbeurteiler und Tanzschriftsteller von Haus aus Musiker. Es gibt kaum einen Tanzkritiker, der selbst Tänzer ist oder in tänzerischen Dingen ausser durch das Anschauen von Tanzvorstellungen geschult ist. Wenn man sich überlegt, dass jeder Musikkritiker einer Zeitung selbstverständlich musikalisch einer Zeitung muss, dass jeder Theaterkritiker selbstredend selber Literat ist, so ergibt sich ohne Weiteres, wie verhängnisvoll es für die Beurteilung der modernen Tanzkunst sein muss, und wie stark das Publikum - das ja doch meistens sein Urteil aus der Zeitung bezieht - oft in falsche Richtungen gelenkt wird, denn ein Nicht-Fachmann kann natürlich nicht so auf das Wesentliche in der Beurteilung einer Kunst eingehen wie ein Fachmann. Auch hier wäre es wie bei den Komponisten zu wünschen, dass mit der Zeit eine Annäherung zwischen den Schriftstellern und den Tanzwissenschaftlern stattfände, um durch das Eindringen in die Materie, durch Berufene das Publikum zu belehren und auf den richtigen Weg des Verständnisses zu führen.