Ernst H. Posse
Georges Sorel (1847-1922)191
Georges Sorel ist seit zwei Jahrzehnten eine umstrittene Persönlichkeit. Rechts- und links-aktivistische Kreise beanspruchen ihn gleichzeitig als ihren Theoretiker, besser: geistigen Führer und Lehrmeister. Theoretiker klingt nach Gebäude systematisch geordneter Gedanken, und bei Sorel kann man wohl von einer Fülle - und teils höchst überraschender - Gedanken, weniger von systematischer Ordnung sprechen. Er war stolz, keine Methode zu haben. Genieblitze eines historisch, philosophisch und ökonomisch Gebildeten und Revolutionärs. Ihm fehlt die Disziplin des Marxisten, die dank übertriebener Marxgläubigkeit leicht Überdisziplin, das heisst unproduktiv werden kann. In dieser Gegenüberstellung liegen die Vorteile von Sorels Denken: er erkennt und ahnt Zusammenhänge, wo sogenannte Marxisten haltgemacht haben, da der Weg noch nicht vorgezeichnet war.
Das Echo seines Todes war wie Leben und Werk verwirrend, zwiespältig. Während die linksradikalen Kreise ihrer tiefen Sympathie Ausdruck gaben, taten das Gleiche die Leute der ‘Action Française’ und Georges Valois, der Theoretiker des französischen Fascismus. Mussolini selbst nennt sich Schüler Sorels und hatdas des öfteren betont. So antwortete er einmal auf die Frage eines Redakteurs des ‘A.B.C.’ Madrid, welcher Einfluss für seine Entwicklung der Entscheidende gewesen sei: ‘Der Sorels. Für mich war die Hauptsache Handeln. Ich wiederhole, Sorel schulde ich am meisten. Dieser “maître” des Syndikalismus hat durch seine schroffen Theorien der revolutionären Taktik am meisten dazu beigetragen, die Disziplin, Energie und Stärke der fascistischen Kohorten zu begründen’. Sorel hat 1912 in persönlichem Kontakt mit Mussolini gestanden. Aus dieser Zeit wird folgender Ausspruch überliefert, der Mussolinis Natur und spätere Auswirkung prophetisch erfasst: ‘Notre Mussolini n'est pas un socialiste ordinaire. Croyez-moi: vous le verrez peut-être un jour à la tête d'un bataillon sacré saluer de l'épée la bannière italienne. C'est un italien du quinzième siècle, un Condottière. On ne le sait pas encore, mais c'est le seul homme énergique capable de redresser les faiblesses du gouvernement.’
Doch zu Sorel zurück. Vor der Andeutung seiner objektiven Leistung einige Stichworte über die Hauptetappen seines Lebens: Geboren 1847, Schüler der école politechnique, über zwanzig Jahre Ingenieur. Von der Schule bringt er das naturwissenschaftliche mathematische Denken mit, im Gegensatz zu dem mehr ideologischen der ‘normaliens’ (Schüler der école normale supérieur) - ein Gegensatz der von grösster Bedeutung ist und bei vielen Franzosen ausschlaggebend. Der Ingenieur-Beruf verstärkt dies rein technische Denken, das in seinen späteren Arbeiten vorwiegt. Er beginnt erst nach dem 40. Jahre zu schreiben. 1898 glühender Verteidiger der Dreyfussache, Schulter an Schulter mit dem reformistischen Sozialismus, voller Bewunderung für Jaurès, dessen eigentlicher Gegenspieler er später werden sollte.
Der Ausgang der Dreyfusaffäre und die Festigung der kleinbürgerlichen Demokratie wandelt ihn. Einige Jahre später lehnt er den nur parteipolitischen parlamentarischen Sozialismus als unproduktive Alterserscheinung ab. Durch Kompromisse, Aufgehen in Nurreformismus sicht er in ihm nicht genügend élan vital um als konstruktiver Faktor im Gesellschaftsleben gelten zu können. Genau so wendet er sich gegen das etwas hohle Pathos des marxistischen Doktrinarismus eines Jules Guesde und Lafargue. Bald ist er der Apologet des revolutionären Syndikalismus geworden. Damals gab ihm Jaurès die populär gewordene Bezeichnung ‘métaphysicien du syndicalisme’.
Um 1912 sympathisiert er mit den Doktrinen des Traditionalismus, steht mit konservativen und nationalistischen Theoretikern in enger Verbindung. Der Krieg enttäuscht ihn nicht als Erscheinung an sich, die unerwartete Reaktion der Massen (und vielverspre-
chender Einzelner!) ist es, die ihn unfähig macht, Wege in eine klarere, geordnetere sozialistische Zukunft zu sehen. Und Hauptmotiv dieser Depression ist eine Einsicht die für ihn charakteristisch: die Alliierten verstehen es, mit der Parole ‘Demokratie in Gefahr!’ die Massen zu begeistern und eine einheitliche geistige Kampffront herzustellen.
Sorel der sich von dem Glauben an die parlamentarische Demokratie abgewandt hatte, erwartete nicht mehr eine so wirksame Resonanz demokratischer Parolen. - Der Sieg des Bolschewismus lässt ihn, der damals im französischen Geistesleben durch die grosse Reihe seiner soziologischen Werke eine Rolle spielt, angesehene bürgerliche Zeitungen öffnen ihm ihre Spalten, zum ersten französischen Verteidiger des Bolschewismus werden, zum ersten Verteidiger von Format, auf dessen Worte man hört. Der vierten Ausgabe der ‘Réflexions sur la violence’ (1920) fügt er ein vielbeachtetes Plaidoyer für Lenin bei.
Über das Werk (oder die Werke, deun wie das Echo ist das Fundament nicht einheitlich) kann hier nur ganz Allgemeines gesagt werden. Sorel basiert auf Saint-Simon, Proudhon und...Marx. Doch würde das nicht allein erklären, warum er über die sozialistische Gedankenwelt hinaus auch den aktiv traditionalistischen Strömungen (wie action française) Lehrmeister sein kann. Der grosse Einfluss, den Nietzsche und später Bergson auf Sorel ausgeübt hat, schafft - kombiniert mit der bestehenden sozialistischen Gedankenwelt - das irrationalistische, aktivistische Element in seinem Werk. Und dies ist das eigentlich Neue, das Sorel, die politischen Lehren des 20. Jahrhunderts wesentlich beeinflussend, produziert hat. Es ist die Idee von der ‘action directe’, vom Generalstreik als Mythos (von Mussolini umgewandelt in die Nation als Mythos. Mussolini 1922 vor dem Marsch auf Rom: ‘unser Mythos ist die Nation, die grosse Nation, die wir zu einer konkreten Realität machen wollen’), weiter die grundlegende Idee von der produktiven Rolle der Gewalt in der Geschichte. In der französischen Presse ist noch heute der Streit nicht beendet, ob Sorel, der Lehrer Mussolinis, wohl jemals die fascistischen Gewalttaten bejaht hätte. Wer die moralisch ethischen Motive berücksichtigt, die er als Rechtfertigung der revolutionären Gewaltanwendung anführt, muss zu dem Schlusse kommen: der Lehrer hätte seinen Schüler verdammt...wie er Lenin verehrte! Oder denken wir im Sinne Sorels, lassen jede banalisierende Vereinfachung fort und konstatieren ruhig, dass er in Mussolini zwar den Verräter aber den grossen Verräter gesehen hätte.
Die wahre Bedeutung Sorels liegt in der Wiedererweckung proudhonistischen (teils auch bakunistischen) Geistes. Man denke nur an die Grundstimmung von ethischen und moralischen Wertungen in seinem Werk (die Verachtung des ‘bourgeois’) die ihn ebenso in Kampfstellung gegen die marxistischen wie alle parteisozialistischen Bewegungen bzw. deren Führer (Guesde, Jaurès usw.) gegen die Typen der ‘Berufspolitiker’ brachte. Um es kurz auszudrücken, ihm schien die Ethik des Sozialismus und die moralische Integrität u. Intensität des proletarischen Befreiungskampfes wichtiger als die blosse Feststellung des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte. Wenn Sorel auch mit Marx den rücksichtslosen rein proletarischen Klassenkampf betonte (das im Gegensatz zu Proudhon, der alle ‘Gutgesinnten’ einschloss das heisst auch die integeren Elemente der Bourgeoisie) so ist doch sein Werk eine teils widerspruchsvolle aber geniale Kombination von Proudhon und Marx, in der proudhonistischer Geist vorwiegt.
Eine solch kurze stichwortartige Übersicht muss vieles offen lassen, kann vieles nur andeuten und mag auch vieles als Zweifel zurücklassen. Die Übereinstimmungen im an sich sozialistischen Werk Sorels mit den Lehren des extremen Nationalismus und Traditionalismus werden zu derartigen Zweifeln führen. Und da kann nur allgemein gesagt werden, dass diese beiden Lager, die aus entgegengesetzten Motiven Gegner des in Europa herrschenden bourgeoisen, parlamentarischen und demokratischen Geistes sind, in negativen Zielen, in der Vernichtung dieses Geistes, in der Kritik notwendigerweise übereinstimmen müssen. Erst der Aufbau des Neuen führt sie auseinander, endgültig. In dieser Situation ist das Werk Sorels entstanden, daher seine eigenartige Resonanz. Der Sinn seines Werkes dagegen liegt im Sozialismus, für den er kämpfte.
Soeben erschien eine deutsche Übersetzung der ‘Réflexions’: Über die Gewalt, von Georges Sorel. Mit einem Vorwort von Gottfried Salomon und Nachwort von Edouard Berth, Universitäts-Verlag Wagner, Innsbruck, 1928, 386 S. Brosch. 9 R.M. Geb. 12 R.M.