Menno ter Braak
aan
Konrad Merz

Den Haag, 3 juli 1938

Haag, am 3. Juli '38

Lieber Merz,

Ihr Buch habe ich heute, in fünf Stunden, ununterbrochen gefesselt, zu Ende gelesen.

Sie werden mir verzeihen, dass ich ein Buch solchen Formats nicht sofort bewaltigen kann; die erste Lektüre war schnell, ich werde das Ganze mindestens noch einmal lesen. Aber schon kann ich Ihnen sagen, dass es meine kühnsten Erwartungen noch weit übertroffen hat. Es kam mir während des Lesens diese Formel: der ‘Zauberberg’ der Emigration von Dostojewski geschrieben. Dass man an solche Namen denkt, ist schon der Beweis dafür, dass Sie etwas grosses geschaffen haben. Ein Vergleich mit ‘Ein Mensch fällt...’ ist gar nicht mehr nötig: Sie haben jetzt eine Höhe erreicht, die nichts mehr zu ‘versprechen’ braucht, die ganz für sich eine Höhe ist. War Ihr erstes Buch ein subjektives, geradliniges Bekenntnis, Generation ohne Väter ist etwas ganz anderes; ich hätte fast gesagt: etwas objektives, wenn das Wort nicht so zweideutig wäre. Die Subjektivität ist ja nicht verschwunden, sondern aufgesogen worden von dieser Objektivität, genau wie es bei Dostojewski der Fall ist. Ja, der einzige Namen, der bei einem Vergleich sich meldet, ist der Namen Dostojewskis; der Anfang ist noch mehr Gogol; allmählich wachsen sie in Ihr Buch hinein, und dann genügt dieser Namen schon nicht mehr ganz. Dies mein Eindruck nach der ersten Lektüre (teilweise zweite Lektüre, denn ich las ja schon die erste Kapitel in provisorischer Fassung), und also ein vorläufiger Eindruck; trozdem glaube ich nicht, dass ich mich wesentlich irre. Auf jeden Fall haben sie mit Dostojewski gemeinsam, dass Sie ein richtigen Romanschriftsteller sind, der ‘wie ein Besessenen’ schreibt und so die Realität des Alltaglebens in einer Traumhaften Vision zu gestalten vermag. Das ist etwas grosses; ich kann mich einfach nicht vorstellen, dass Sie es sind, der Sie diese Fülle erreicht haben. <Entschuldigung: nicht weil ich Sie wenig schätzste, sondern weil Sie sich in diesem Buch verzehnfacht haben.> Sie müssen volkommen von Ihren eigenen Gestalten verzaubert gewesen sein, sonst kann man so etwas nicht machen.

Sie sehen: ich bin nach der ersten Lektüre begeistert, und darum möchte ich Inhnen schon diese Begeisterung sofort mitteilen. Ich halte es ja durchaus für möglich, dass Sie nach einer so enormen Anstrengung selbst nicht mehr wissen, was Sie eigentlich geschrieben haben; wer so mit seinen Gestalten gelebt hat, muss sich wohl schwerlich wieder zurückfinden können.- Ein paar vorläufige Bemerkungen:

Die Madeleine ist ausgezeichnet; ich wüsste nicht, was ich gegen eine solche Psychologie einwenden könnte. Dabei ist das ‘Symbolische’ so schön in ihr (wie auch in den anderen Personen) versteckt geblieben, dass sie niemals als ein ‘Symbol’ von Frankreich anmutet... und es eben darum ist.

Sie haben sich seit ‘Ein Mensch fällt...’ auch rein stylistisch gesehen enorm entwickelt. Das sentimentalische und ‘junge’ ist verschwunden; der Stil ist reif, urdeutsch und trotzdem präzis und nicht zu sehr in die Länge gezogen. (Meine Eitelkeit ist ein wenig stolz darauf, dass ich den Keim dieses Romans hinter dem anekdotischen Vordergrund. Ihres Erstlings entdeckte.) Trotzdem haben Sie die Ehrlichkeit des ersten Buches keineswegs preisgegeben; ‘Gen. ohne Väter’ ist [gekönnt?], aber nicht glattrasiert. Der Humor in einem Kapitel wie ‘Der Ring’ ist ausgezeichnet, erinnert mich auch sehr lebhaft an Dostojewski.

Das sind so einige sehr vorläufige Bemerkungen. Ich will diesen Brief noch mit der Sonntagspost abschicken und muss also kurz sein. Hoffentlich haben wir noch Gelegenheit über das Buch zu sprechen, bevor ich nach Süd Frankreich abreise (wahrscheinlich am 17. Juli).- Nur noch etwas rein Praktisches: haben Sie das Manuskript schon an Querido verkauft? Wenn noch nicht, so können Sie ihm eventuell sagen, dass ich in het Vaderland einen grossen Artikel darüber schreiben werde. Uberigens dürfte er stolz sein ein solches Buch verlegen zu können. Es erscheint doch bestimmt noch im Herbst?

Hauptsache: Generation ohne Väter ist zweifellos ein Buch ersten Ranges.

Herzliche Glückwunsche und Grüsse

Ihr M.t.B.

Origineel: particuliere collectie

Fotokopie: Den Haag, Letterkundig Museum

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