Thomas Mann
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Menno ter Braak

Locarno, 3 oktober 1937

3.X.37. Locarno, Hotel Reber

Lieber Herr Doktor ter Braak:

Verzeihen Sie, dass ich auf Ihre schöne Sendung noch immer nicht reagiert habe. Der Aufenthalt hier, Erholung gemischt mit allzu viel Zerstreuung, ist der Korrespondenz wenig günstig.

Ihr Aufsatz über das Christentum hat mich ungemein animiert. Ich atmete f r e i e Luft dabei, etwas sehr Seltenes und Köstliches heute, wo die Verdummung durch den Parteigeist mehr und mehr um sich greift und den freien Geist fast abhanden kommen lässt. Ich habe Ihr Manuskript an den Redactor von ‘Mass und Wert’ mit einem sehr nachdrücklichen Hinweis gesandt und erhalte eben von Ferdinand Lion eine Antwort, die für seine Verhältnisse (denn er ist ein kritischer, schwieriger Mann) ganz ungewöhnlich positiv, ja begeistert lautet. Er schreibt mir: ‘Ein Trost in der Misere ist die Arbeit von Menno ter Braak. Kennen Sie ihn schon lange? Ich wäre für sofortige Annahme, wenn der Verfasser in eine Kürzung von einigen Seiten willigt. Von der dritten Seite an fühlte ich heimatliche, alt-europäische Luft; von der zehnten an war ich ganz über die mich spannende und entsetzende Begegnung der zwei Hottentotten-Könige in Berlin getröstet. Vieleicht war das Rührende, dass ich an die Dialektik gewisser Stellen bei Ihnen in den `Betrachtungen´ erinnert wurde. Doch braucht der Verfasser nicht direkt dort gelernt zu haben; er ist, wie Sie, ein Nietzsche-Jünger, um so treuer, als er teilweise abtrünnig und gegnerisch ist. So ist nämlich die wirkliche Art der Nachfolgeschaft Nietzsches, die einzige, während die, die ihm plump realisieren, ihn verraten.’

Das ist mir aus dem Herzen gesprochen. Der Wunsch nach einigen Kürzungen geht gewiss nur aus technischen Raum-Gründen hervor, und ich hoffe, Sie werden nichts dagegen einzuwenden haben. Wir dürfen das schöne Kapitel, das übrigens einen durchaus selbstständigen Beitrag bildet, also wohl als unser Eigen betrachten. Ein paar Wendungen über das Christentum sind wohl darin, die sich, wenigstens auf Deutsch, ein wenig grell ausnehmen und bei der Rolle, die das Christentum in der deutschen Opposition immerhin spielt, vielleicht nicht ganz wünschenswert wären. Gelinde Milderungen also wäre möglicher Weise hier und da am Platz, aber das findet sich. Es ist mir eine Freude, mit dem Redaktor über den Wert Ihrer Arbeit so volkommen übereinzustimmen.

Es hat mich auch sehr interessiert, was Sie über die weiteren Bestandteile und Kapitel Ihres Werkes sagen. Es sind Titel darunter, die mich, wiederum im Interesse der Zeitschrift sehr Anziehen, zum Beispiel der Abschnitt über ‘die menschliche Würde’, auch der über die ‘grosse Gleichheit’, um nur diese zu nennen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir weitere Abschnitte, falls schon übersetzt, zur Lektüre anvertrauten.

Herr Marsmann besuchte mich neulich hier, und ich habe ihn sehr ermutigt, mir gelegentlich junge holländische Novellistik für die Zeitschrift zu lesen zu geben.

Mit vielen Grüssen und herzlichen Dank bin ich, lieber Herr ter Braak,

Ihr ergebener

Thomas Mann

 

Origineel: Den Haag, Letterkundig Museum

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