Thomas Mann
aan
Menno ter Braak
Arosa, 11 januari 1938
Arosa. Neues Waldhotel
11.I.38.
Lieber Herr Doktor ter Braak:
Nach Empfang Ihres Briefes hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als hier herauf zu fahren, um mit Lion die Angelegenheit zu besprechen, die, wie ich nach der ersten Auseinandersetzung zugeben muss, ihm ebenso wichtig ist wie mir. Der Choc, den ein Autor empfangen muss, wenn er sein Manuskript in einem Zustand zurückerhält, wie Sie das Ihre empfangen haben, ist nur zu begreiflich. Ich habe Lion gesagt, dass das die richtige Methode gegenüber einem künstlerischen Schriftsteller nicht ist, und dass Kürzungen auf dem humaneren Wege der brieflichen gegenseitigen Verständigung ohne Blei- und Blaustift durchgeführt werden müssten.
Lion schwört hoch und heilig, dass er nicht im Geringsten beabsichtigt habe, Ihrer glänzenden Arbeit geistig zu nahe zu treten. Nichts von Castrations-Wünschen ist ihm dabei im Geringsten bewusst gewesen. Es handelte sich für ihn (und darum muss es sich ja freilich handeln) um den Umfang der Arbeit, der irgendwie, wenn auch unter geistigen Opfern, reduziert werden sollte. Ihr Aufsatz bietet dafür, man muss sagen glücklicher Weise, eine gewisse Handhabe dadurch, dass er sehr reich ist an (an und für sich überaus reizvollen) Seitenperspektiven und Abzweigungen, von denen man, so finde auch ich, wohl für den ersten Druck die eine oder andere beseitigen kann, ohne dem grossen Hauptgedankengange wesentlich zu schaden. Sogar ist nicht ausgeschlossen, dass der Grundgedankengang für den Leser durch diese allerdings mit grösster Sorgsamkeit zu vollziehende Operation tatsächlich an Klarheit gewinnen könnte.
Ich wiederhole: bei dem ersten Gespräch mit Lion, dem weitere folgen werden, habe ich die Ueberzeugung gewonnen, dass er wirklich nichts Anderes im Sinn gehabt hat, als das, was ich eben sagte. Und er versichert mir, dass er seine allerdings brutal wirkenden Striche Ihnen gegenüber nie anders denn als als [?] Vorschläge bezeichnet habe, die von Ihnen beliebig zu korrigieren seien. Er sagt, Sie hätten ihm zunächst vier Seiten vorgeschlagen, die in Wegfall kommen könnten, aber bei ihm sei es um diese vier Seiten gerade leid gewesen und er habe es bei seinen Vorschlagen vorgezogen, die Striche lieber über den ganzen Aufsatz zu verteilen, statt einen grösseren Zusammenhang zu eliminieren.
Worin wir einig sind, er und ich, das ist das grosse Interesse, das wir Ihrem Beitrag widmen, und der grosse Wert, den wir darauf legen. Ihre Empfindlichkeit in Ehren: ich hätte genau so reagiert, wie Sie. Aber diese begreifliche Reaktion von Ihrer Seite ist für mich nicht Grund genug, für unsere Zeitschrift auf einen Beitrag dieses Ranges zu verzichten, und ich möchte Sie sehr bitten, auf der Zurückziehung Ihres Manuskriptes keinesfalls zu bestehen, sondern sich, sei es mit mir oder mit Lion, über die Kürzungen zu verständigen, die Sie selbst als geistig erträglich für Ihre Arbeit empfinden. Ueber diese Empfindung hinaus soll und darf ihr nichts geschehen. Ich will hoffen, dass Sie aus diesen Zeilen wenigstens das Eine ersehen, dass weder ich noch der Redacteur den Fall leicht nehmen. Lassen Sie, bitte, mich oder Lion bald über die Sache Gutes hören!
Ihr sehr ergebener
Thomas Mann
Origineel: Den Haag, Letterkundig Museum